Niemandsland – Terra Nullius

Foto: Shutterstock/ Stefan Petru

von Lily Arnold

Folgendes Szenario: Es ist der Sommer 2018, im Familienurlaub auf einer Fahrradtour mitten in Brandenburg bei 35 Grad auf einer Landstraße gestrandet, weit und breit kein Café, kein Restaurant, nicht einmal eine Sitzbank zu sehen. Der Asphalt flimmert, die Luft ist dicker als Butter und die Aussicht ist auch seit Stunden dieselbe: vertrockneter Wald. Damals dachte ich, was ist das bloß für ein Niemandsland, in dem wir hier gelandet sind. Hier ist nichts, wofür es sich lohnt, hier zu sein. Umgangssprachlich ist der Begriff „Niemandsland“ über seine eigentliche Bedeutung hinaus weit verbreitet. Öde Landschaften, unerforschtes Gebiet und abgelegene Gegenden werden häufig so bezeichnet, auch wenn das Nichts dort nicht ganz so allgegenwärtig ist wie in der eigentlichen Definition. Denn Niemandsland im ursprünglichen Sinne ist mehr als nur ein trockener Streifen Land mitten in Deutschland, wo arme Touristen ohne Eiskaffee auskommen müssen. Es handelt sich um Teile der Erde, die von niemandem
verwaltet oder besessen werden, sie gelten als sogenannter „rechtsfreier Raum“, in denen keine Gesetze gelten oder durchgesetzt werden. Terra Nullius, also „niemandes Land”, ist ein Begriff, der schon im alten Rom geläufig war und auch heute gibt es noch offizielles Niemandsland (also richtiges Niemandsland, nicht Brandenburg im Hochsommer, die Tundra oder andere Flecken Land, die böse Zungen als trostlos bezeichnen könnten).

Das Mary-Byrd-Land

Das größte Niemandsland auf dem Festland ist das Mary-Byrd-Land im Westen der Antarktis. Hier herrschen auf ca. 1.610.000 km2 keine Gesetze, keine Regeln und keine Gebietsansprüche irgendeiner Nation. Benannt ist die Region nach der Ehefrau des amerikanischen Forschers Richard Evelyn Byrd, das macht es aber noch nicht zu amerikanischem Gebiet. In der Welt, wie wir sie kennen, scheint es schwer vorstellbar, dass auf Teile dieser Welt kein Anspruch erhoben wird. Jeder bewacht sein Grundstück, sei es mit Waffengewalt, wie es in manchen Staaten üblich ist, oder nur durch einen Zaun, wie wir es hierzulande oft handhaben. Klar, mit einem großen Stück Eis, wie es das Mary-Byrd-Land ist, kann eine Nation vermutlich wenig direkten Nutzen ziehen. Aber Grundbesitz ist ein Statussymbol, ob für Privatpersonen oder ganze Nationen.

Seerecht
Mit dem flächenmäßig größten Stück „Niemandsland“ auf der Erde verhält
es sich da schon anders: dem Meer. Als Hohe See gelten alle Teile des Meeres, die nicht Teil einer Ausschließlichen Wirtschaftszone (AWZ), des Küstenmeeres, der Binnengewässer eines Staates oder der Archipelgewässer eines Archipelstaats sind. Anders als das Mary-Byrd-Land, wird die Hohe See aber gleich von mehreren Staaten genutzt. Die Freiheit der Hohen See umfasst die Freiheit zur Schifffahrt und zum Überflug, das Recht zur Fischerei und zur Verlegung unterirdischer Kabel und Rohrleitungen, sowie das Recht, künstliche Inseln zu errichten. Auch wissenschaftliche Forschungsarbeit ist in dieser Freiheit inbegriffen. Genau genommen handelt es sich bei der Hohen See nicht um rechtsfreien Raum, denn die Freiheiten sind mit dem Seerecht eindeutig festgelegt. Allerdings kann man sie zumindest als souveränitätsfreien Raum bezeichnen. Auch wenn sich jedes zur See fahrende Schiff an dieses Seerecht zu halten hat, so gelten auf den Schiffen die Gesetze desjenigen Staates unter dessen Flagge das Schiff fährt. In Küstennähe gelten übrigens wieder andere Regeln: Je nach Meerestiefe und Entfernung der Küste haben die Küstenstaaten die Hoheit über diesen Teil des Meeres in unterschiedlichem Maße inne.

 

Weltraumrecht
Wo wir schon dabei sind, lasst uns noch eine Stufe größer denken. Denn das größte Niemandsland auf der Erde nimmt sich immer noch sehr klein aus gegen das Niemandsland, das sich über der Erde erstreckt. Der Weltraum ist, wie die Hohe See, souveränitätsfreier Raum, der niemandem gehört, aber deswegen noch lange nicht rechtsfrei ist. Wie auch auf See gelten im Weltraum eigene Gesetze ganz ohne Gebietsansprüche: Das Weltraumrecht beruht auf fünf internationalen Verträgen, fünf Resolutionen der Vereinten Nationen und zahlreichen Verträgen zwischen einzelnen Staaten und Organisationen wie der UN. Ein Beispiel wäre hier das Raumstations-Übereinkommen von 1998. Dieses besagt, ähnlich wie beim Seerecht, dass die rechtliche Zuständigkeit über diverse Module in Raumstationen der jeweils beitreibenden Nation obliegen. Trotzdem zeigt sich auch hier wieder das Bedürfnis des Menschen, sein Revier zu markieren und es nicht beim Niemandsland zu belassen. Der Mond mag zwar keinem gehören – und dennoch war die erste Amtshandlung der Amerikaner, ihre Flagge dort aufzustellen, kaum, dass sie diesen neuen Boden betreten hatten. Niemandsland tritt schließlich in einer weiteren Form auf, in der sich einmal mehr die Frage nach dem Besitz aufdrängt, und zwar zwischen den Frontlinien eines Krieges. Das umkämpfte Gebiet gehört – je nach Auslegung – den am Kampf beteiligten Staaten oder aber Keinem und ist damit auch in der Definition von Niemandsland inbegriffen. Die Flüchtlingsproblematik hängt also auch eng mit dem Thema zusammen. Erschlossen hat sich mir dieser Zusammenhang über das Gedicht „Niemand“ von Rose Ausländer*. Betrachtet man diesen Aspekt, scheint es fast albern, in welchen banalen Zusammenhängen wir den Begriff im Alltag gebrauchen: Ich verlor die Orientierung in Brandenburg, andere ihr Heimatland. Sicher wissen viele Menschen gar nicht, was alles hinter „Niemandsland“ steht – vor der Arbeit an diesem Artikel wusste ich es auch nicht. Aber mir scheint, dass wir Menschen nur schlecht mit ungeklärten Besitzverhältnissen umgehen können – auch in Bezug auf so große Dinge wie Land, Meer
und All.

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