Spiritisten, Scharlatane, Aufklärer – Geisterfotografie im 19. und 20. Jahrhundert

von Dr. Dominik Schrey

Ungefähr zur selben Zeit, als Marx und Engels ihr kommunistisches Manifest verfassen, in dem es heißt, ein Gespenst gehe um in Europa, wird auch der Nordosten der USA von einer Geistererscheinung heimgesucht. Anders als in Europa äußert diese sich jedoch nicht in politischen Unruhen, sondern vor allem in nächtlichen Ruhestörungen: 1847/48 macht im Haus der Familie Fox in Hydesville bei Rochester wiederholt ein Poltergeist durch laute Klopfgeräusche auf sich aufmerksam. Die drei Töchter der deutschen Einwandererfamilie erkennen diese Geräusche als verschlüsselte Botschaften und beginnen, sie einem Morsecode gleich zu dechiffrieren. Nicht ganz unbedeutend für diese folgenreiche Idee dürfte die Tatsache gewesen sein, dass unmittelbar zuvor die ersten Telegrafenlinien durch Rochester verlegt wurden und die Zeitungen deshalb voll von Artikeln über diese neue Kommunikationstechnologie sind.
In dieser Stimmung berichten die Mädchen unter ebenfalls großem öffentlichen Interesse über ihre Kommunikation mit dem Geist eines – wie sie nun wissen – vor Jahren in ihrem Familienheim ermordeten Hausierers. Schon bald gehen sie mitsamt ihrem zahm gewordenen Poltergeist auf eine kommerziell überaus erfolgreiche Tournee, die sie bis nach Europa führt. Überall ist das Publikum fasziniert von den Performances der Schwestern, die so nicht nur eine quasireligiöse Bewegung begründen, sondern auch eine lukrative Form der modernen Massenunterhaltung: Für Eintrittsgeld bekommt das Publikum zunehmend spektakuläre Séancen präsentiert. Andere „Medien“ und Geisterseher schließen sich der in rasantem Tempo wachsenden Bewegung an und sorgen für deren theoretischen Unterbau. Dabei ist die Lehre des „modernen Spiritismus“ deutlich versöhnlicher als die der christlichen Kirche: Statt sich vor Fegefeuer oder Hölle fürchten zu müssen, kann man sich nach dem Tod auf einen Ort namens „Summerland“ freuen, der im Wesentlichen so aussieht wie das Diesseits, nur dass das Wetter besser ist und es keinerlei Leiden gibt. 40 Jahre später, im Jahr 1888, geben die Schwestern schließlich zu, die Klopfgeräusche selbst mit ihren Zehen erzeugt zu haben, doch selbst dieses Geständnis kann die modische Bewegung zu diesem Zeitpunkt nicht mehr ernsthaft diskreditieren.

Dennoch macht man es sich zu einfach, wenn man den „modernen Spiritismus“ einfach als antiaufklärerischen oder naiven Versuch der Wiederverzauberung der Welt oder als Überbleibsel eines abergläubischen Denkens abtut. In vielerlei Hinsicht ist die Bewegung tatsächlich eine im engeren Sinn „moderne“ Massenbewegung, deren gesellschaftliche Bedeutung nicht unterschätzt werden sollte: Die vermeintlichen Geister äußern sich zunächst bevorzugt durch Frauen und verleihen diesen dadurch eine zuvor kaum denkbare Autorität. So überrascht es nicht, dass die frühe amerikanische Frauenrechtsbewegung aus dem Spiritismus hervorgeht. Außerdem vertritt die Bewegung einen dezidiert wissenschaftlichen Anspruch. Aus heutiger Sicht mag es verwundern, wie viele prominente Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des 19. und frühen 20. Jahrhunderts bekennende Spiritisten sind: von William Crookes über Sir Alfred Russel Wallace zu Oliver Lodge und Charles Richet, der heute wahrscheinlich weniger als Nobelpreisträger für Medizin bekannt sein dürfte denn als Erfinder des aus Ghost Busters bekannten „Ektoplasmas“. Andere zählen sich zwar nicht der Bewegung zu, nehmen aber dennoch interessiert an deren Séancen teil: so etwa Marie und Pierre Curie, der Philosoph Henri Bergson oder Schriftsteller wie Thomas Mann und Rainer Maria Rilke.

Die meisten wissenschaftlichen und technischen Innovationen des 19. Jahrhunderts werden in diesem Kontext schnell eingesetzt, um die Existenz von Geistern zu belegen oder mit diesen zu kommunizieren. Die Spiritisten sind in vielerlei Hinsicht „early adopters“ neuer Medientechnologien, deren Black Boxes „immer schon Gespenstererscheinungen“ liefern, wie es bei Friedrich Kittler heißt. In ganz besonderem Maße trifft dies natürlich auf die Fotografie zu, die gleich im doppeltem Sinn eine Black Box ist: einerseits als Camera Obscura (Prinzip der Lochkamera) des Apparats, andererseits als Dunkelkammer für die Entwicklung. Ohnehin wurden die „Lichtbilder“ seit ihrer Erfindung in den 1820er und 1830er Jahren gerne mit Metaphern aus dem Bereich der Magie, des Animismus oder auch der Heilsgeschichte beschrieben, so irritierend und faszinierend war das Verfahren, mit dem erstmals automatisiert flüchtige Bildeindrücke auf einem materiellen Träger gespeichert werden konnten, für die Zeitgenossen.

Zu der damals dominanten Leitmetapher einer gleichsam magischen „Selbstabbildung der Natur“ gesellt sich bald die Vorstellung, dass die Fotokamera auch Dinge aufzeichnen könne, die dem menschlichen Auge verborgen bleiben: Die Fotografie gebe die Realität also nicht nur exakt wieder, sondern sei zugleich auch „reichhaltiger“ als deren Alltagswahrnehmung. Vor dem Hintergrund der zahlreichen wissenschaftlichen Anwendungen der Fotografie und der dadurch angestoßenen Wissensexplosion wirkt diese Annahme durchaus plausibel: Die Verbindung von Fotografie mit Mikroskop und Teleskop vermittelt erstmals einem breiteren Publikum Einblicke in vorher unzugängliche Mikro- und Makrowelten, Langzeitbelichtungen machen die Erdrotation im Bild sichtbar, Chronofotografien zerlegen komplexe Bewegungsabläufe in zahlreiche Einzelbilder und bringen so Details hervor, die sonst aufgrund ihrer Geschwindigkeit unterhalb der Wahrnehmungsschwelle bleiben, und noch im 19. Jahrhundert gelingt es zum Beispiel Ernst Mach, die Luftverdichtungswellen, die sich um ein abgefeuertes Pistolenprojektil bilden, fotografisch festzuhalten.

In dieser Phase der wissenschaftlichen Erkundung des Sichtbaren mit Hilfe der neuen Medientechnologie entdeckt auch der Spiritismus die Fotografie als ideale Methode für seine Bestrebungen, Geistererscheinungen empirisch nachweisbar zu machen. Geleitet von der Hoffnung, dass die visuelle Evidenz der fotografischen Aufzeichnung die wachsende Zahl von Skeptikern von der Validität spiritistischer Glaubensinhalte überzeugt, entsteht um die Mitte des 19. Jahrhunderts ein florierender Markt für Geisterfotografien. Diese lassen sich grob in drei Kategorien unterteilen:

1. Die Geisterfotografien im engeren Sinne: Meistens handelt es sich um klassische Porträtfotos, auf denen neben oder hinter der fotografierten Person mehr oder weniger schemenhafte Figuren schweben, die jedoch erst bei der Entwicklung „sichtbar werden“.

2. Sogenannte Fluidal- oder Energiefotografien: Auch hier soll eigentlich Unsicht­bares sichtbar gemacht werden, allerdings nicht Geister im figurativen Sinn, sondern lediglich Spuren einer geisterhaften Sphäre jenseits unserer Wahrnehmungskapazitäten. Häufig handelt es sich um kameralose Fotografien, die etwa dadurch entstehen, dass sich vermeintlich medial begabte Personen eine unbelichtete fotografische Platte vor den Kopf halten, um ihre Gedanken darauf zu projizieren. Einen Höhepunkt erlebt diese Art von Fotografie nach der Entdeckung der Röntgenstrahlung, die von vielen Spiritisten gefeiert wird, weil sie die Annahme zu bestätigen scheint, dass der Fotografie ein ungleich breiteres Wahrnehmungsspektrum als dem menschlichen Auge zur Verfügung steht.

3. Die fotografische Dokumentation von Séancen, Levitationen (freies Schweben eines Objektes) und „Materialisationsphänomenen“ – etwa das Austreten des bereits erwähnten „Ektoplasmas“ aus verschiedenen Körperöffnungen eines „Mediums“. Hier ist die Fotografie auf ihre klassische Funktion beschränkt und bildet nur das ab, was auch die Anwesenden sehen, sie ist also im Gegensatz zu den ersten beiden Kategorien selbst nicht notwendiger Teil der Anordnung.

Als erster professioneller Geisterfotograf gilt William H. Mumler aus Boston, dessen Berühmtheit auf ein spektakuläres Gerichtsverfahren wegen Betruges zurückgeht, über das auch international breit berichtet wurde. Vom Gericht in Auftrag gegebene Fachgutachten belegen 1869, dass es sich bei seinen Arbeiten um Doppelbelichtungen handelt, dennoch wird er mangels Beweisen für eine absichtliche Täuschung freigesprochen. Der Prozess kann seiner Popularität jedoch nicht schaden – anders als oft behauptet stammen seine bekanntesten Fotografien sogar aus der Zeit danach, als er eigentlich bereits als Lügner entlarvt war. Bekannt ist vor allem sein Foto von Mary Todd Lincoln aus dem Jahr 1870, auf dem sie mit dem Geist ihres fünf Jahre zuvor ermordeten Ehemanns abgebildet ist. Mumler versicherte zeitlebens, zum Zeitpunkt der Aufnahme nicht gewusst zu haben, wen er da in seinem Studio fotografiert hatte. Angeblich erkannte er erst durch die Materialisation des toten Ex-Präsidenten auf der fotografischen Platte die inkognito reisende Witwe Lincoln. Noch im frühen 20. Jahrhundert sind prominente Verteidiger des mittlerweile an Relevanz verlierenden Spiritismus wie etwa Sir Arthur Conan Doyle von der Echtheit dieses Fotos überzeugt. Um den sonst eher für seinen rationalen Scharfsinn bekannten Autor der Sherlock-Holmes-Geschichten zu provozieren, lässt 1920 auch der Bühnenmagier Harry Houdini Fotos von sich mit dem Geist Lincolns anfertigen und erklärt öffentlich, wie man solche Bilder einfach erzeugen kann.

Vergleichbare Aufklärungsversuche gibt es aber auch bereits im 19. Jahrhundert. Dem heute verbreiteten Bild eines damals noch ungebrochenen naiven Glaubens an die fotografische Objektivität zum Trotz sind sich bereits die Zeitgenossen Mumlers sehr wohl der vielfältigen Manipulationsmöglichkeiten fotografischer Bilder bewusst. Dieselben Techniken – Doppelbelichtung, Retusche, der Einsatz sogenannter Geisterstempel und verschiedener chemischer Substanzen – finden gleichzeitig auch in anderen populären Anwendungen der Fotografie breiten Einsatz und werden in zahlreichen Fach- und Publikumszeitschriften ausführlich vorgestellt. Neben den vorgeblich authentischen Geisterfotografien zirkulieren in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auch zahlreiche offenkundig ironische Fotos mit Geistern, Elfen und ähnlichen Wesen, die aus ihrem Status als Fälschungen überhaupt keinen Hehl machen. Dem Franzosen Édouard Buguet, einem der Stars der spiritistischen Fotografie in Europa, wird 1875 gerichtlich verboten, weiterhin Geisterfotografien anzufertigen und zu verkaufen. Er dreht sein Geschäftsmodell daraufhin einfach um und lässt neue Visitenkarten drucken, auf denen er sich nun als „Antigeisterfotografen“ bezeichnet und explizit verspricht, durch Bildmanipulation jede von den Kunden gewählte Person als Geist abbilden zu können.

Diese Geschichten haben jedoch mehr als anekdotischen Charakter. Tatsächlich belegen sie, dass schon um 1870 ein Foto selbst nicht mehr als beweiskräftig genug angesehen wird, um zweifelsfrei die Existenz etwa von Geistern zu belegen. Vielmehr ist eine begleitende Geschichte über die Entstehung dieser Fotografie oder die moralische Integrität des Fotografen notwendig, um die Glaubwürdigkeit des Fotos überhaupt erst zu erzeugen. Damit soll nicht behauptet werden, dass es einen Glauben an die fotografische Objektivität im 19. Jahrhundert nicht gab, sondern, dass es gerade die Geisterfotografie ist, die diesen Glauben zum ersten Mal nachhaltig erschüttert – und zwar über hundert Jahre vor den Diskussionen im Zuge der Digitalisierung der Fotografie, die heute häufig als Ursprung des verlorenen Vertrauens in die Fotografie betrachtet wird. So wurden – durchaus vergleichbar mit heutigen Diskussionen über online auftauchende Fotos unbekannten Ursprungs – auch damals vehemente Debatten über die Authentizität dieser Bilder geführt. Dies ging so weit, dass die überzeugten Spiritisten verschiedene wissenschaftliche Anordnungen erdachten, die die Betrugsmöglichkeiten minimieren sollten.

Zudem verstellt dieser Fokus auf die Debatte zwischen Skeptikern und Gläubigen den Blick auf die vielfältigen sozialen Praktiken, die mit der Geisterfotografie im 19. Jahrhundert verbunden waren. Man sollte nicht vergessen, dass die spiritistischen Fotografien genauso wie auch die Séancen über einen erheblichen Attraktionswert verfügten – und zwar unabhängig davon, ob man an Geister glaubte oder nicht. Deshalb sollten diese Praktiken nicht zuletzt als Teil einer frühen massenmedialen Unterhaltungskultur verstanden werden, wie zuletzt Simone Natale in seinem Buch Supernatural Entertainment bewiesen hat. Neben dieser Seite des Massenkonsums gibt es aber auch noch einen eher privaten Aspekt: Sicherlich nicht zufällig erlebte das Genre seine größten Konjunkturen nach den verschiedenen Kriegen auf dem amerikanischen und europäischen Kontinent. Tatsächlich scheint es einen regelrechten Markt für Geisterfotografien als Auftragsarbeiten zu Zwecken der Trauerarbeit gegeben zu haben: Nach dem Tod von Angehörigen konnte man diese so zumindest im Bild wieder in den Kreis der Familie eingliedern.

Dr. Dominik Schrey
arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Karlsruher Institut für Technologie (KIT) und als externer Dozent an der Universität Wien. Nachdem er als Student bereits in den Räumlichkeiten des KITs lernte, steht er heute auf der anderen Seite des Pults und hält interessante Veranstaltungen – unter anderem über Fotografie. Sein aktuelles Buch Analoge Nostalgie in der digitalen Medienkultur, das sich mit der Bedeutung analoger Medien in der heutigen Zeit beschäftigt, wurde 2017 publiziert.

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