Die magische Gedankenwelt der Kinder
Zauberer, Geister und Monster – entweder Freunde, Begleiter oder die schlimmsten Gegner in der Welt eines Kindes. Sie finden sich in der Phase des magischen Denkens, die jeder in seiner Kindheit durchläuft. Für manche ist sie schnell vorbei, doch andere verweilen darin ein bisschen länger. Bis schließlich die Realität die kindlichen Gedanken leitet. Doch wie kommt es dazu?
von Mareike Seethaler
Nachdem Amelie die ganze Woche ein Gefühl von Heimweh hatte, ist sie froh, als sie endlich bei ihren Eltern zu Hause ankommt. Seit sie ausgezogen ist, kommt sie nur noch unregelmäßig vorbei. Und jetzt war es mal wieder an der Zeit für einen Besuch. Nach Kaffee und einem Stückchen Kuchen schwelgt Amelie mit ihrer Mutter in Kindheitserinnerungen und sie kommen auf die Idee, Kinderbilder herauszusuchen und anzuschauen. Da sind Bilder mit Amelie als kleines Baby in der Wanne oder beim Schlafen im großen Bett der Eltern. Schließlich hält ihre Mutter ein Bild in der Hand, auf dem die vierjährige Amelie mit ihrer Lieblingspuppe Anna am Esstisch sitzt. „Erinnerst du dich noch daran, dass du Anna überall mit hingenommen hast? Ich weiß noch genau, wie du mir erzählt hast, ich müsse euch etwas zu essen machen, weil Anna Hunger habe. Du hast mir das mit einer Überzeugung erzählt, dass ich es dir fast geglaubt hätte. Oder wenn Anna müde war, mussten dein Vater oder ich euch beide zu Bett bringen und eine Geschichte vorlesen.“
Piaget unterteilt in seinem Modell vier Stufen
Die kindliche Entwicklung des Denkens verläuft aus heutiger Sicht in einem kontinuierlichen Prozess ab. Der Entwicklungspsychologe Jean Piaget* veröffentlichte allerdings 1936 ein Stufenmodell, welches als Theorie der kognitiven Entwicklung bekannt ist. Trotz mancher Kritik gilt sie noch immer als Basis für die Denkentwicklung. Piaget unterteilt in seinem Modell vier Stufen beziehungsweise Perioden. In der ersten Stufe machen Kinder große Entwicklungsfortschritte und lernen relativ schnell. Dabei handeln sie anfänglich noch reflexartig, ohne über ihr Tun nachzudenken. Erst gegen Ende dieser Stufe können sie schließlich zielgerichtet Handeln. In der zweiten Periode befinden sich Kinder etwa im Alter von zwei bis sieben Jahren. Sie entwickeln in dieser Lebensspanne die Fähigkeit, über Dinge nachzudenken und können beispielsweise Bilder, Geräusche oder auch Vorstellungen geistig abbilden. Dazu gehört auch der Einsatz von Symbolen. Besen werden etwa als Mikrofon oder ein Bauklotz als Auto benutzt.
„Ach, und wenn du nicht mit Anna gespielt hast, war da noch Sarah, deine Schulfreundin von damals. Ihr habt oft alles Mögliche zum Spielen benutzt. Manchmal habt ihr euch aus Stühlen, Seilen und Decken Pferde gebaut und seid dann wohl durch Wälder und Seen geritten“, erzählt Amelies Mutter nach weiteren Bildern. Amelie erinnert sich noch gut an diese Spiele. „Ich weiß noch, dass wir auch mal die Hängematte im Garten als Schiff benutzt haben. Wer herunterfiel, musste mit einem Rettungsring aus Tüchern herausgezogen werden.“
Kinder sind der Mittelpunkt ihrer eigenen Welt
Neben sogenannten Als-ob-Spielen dreht sich zu diesem Zeitpunkt in ihrem Leben alles nur um sie selbst. Die Kinder sind der Mittelpunkt ihrer eigenen Welt. Jean Piaget nennt dieses Phänomen den kindlichen Egozentrismus, der für diese Entwicklungsperiode zentral ist. Das Kind bezieht alles aus seiner Umwelt auf sich selbst und nimmt an, dass die Wirklichkeit seiner eigenen Wahrnehmung entspricht. Zum Egozentrismus gehört der kindliche Realismus. Kinder gehen dabei nicht nur von sich selbst als Bezugspunkt aus oder sehen hauptsächlich die eigene Perspektive. Sie glauben auch, dass alles, was sie für real halten, tatsächlich existiert.
Zu dieser Selbstbezogenheit kommt, dass es Kindern in dieser Altersspanne noch schwerfällt, zwischen Lebendigem und Unlebendigem beziehungsweise Belebtem und Unbelebtem zu unterscheiden. Das führt dazu, dass sie auch unbelebten Dingen, wie Kuscheltieren oder Tischen, menschliche Eigenschaften zuschreiben. Diese Neigung zur Vermenschlichung wird als Anthropomorphismus bezeichnet. Ein Teil der Vermenschlichung ist der Animismus – der Glaube an die Allbeseeltheit jeglicher Objekte – oder das animistische Denken. Kinder beseelen dabei auch unbelebte Dinge. So erhalten Autos, Steine oder der Wind Gefühle, Gedanken oder auch Absichten. Aus diesem Grund würde ein Kind in dieser Lebensspanne vielleicht sagen, es tut dem Tisch weh, wenn man darauf schlägt. Oder der Stein spürt es, wenn man ihn fallen lässt. Kinder erschaffen sich somit Fantasiewelten, die für sie selbst aber sehr real erscheinen. In diesen Welten herrscht das magische Denken vor, in denen Wesen mit übernatürlichen Fähigkeiten existieren können. Zum Beispiel Monster, Hexen oder Feen. Oft gehen Kinder auch davon aus, dass die Natur von solchen Wesen oder aber den Menschen selbst erschaffen wurde. Außerdem hat für sie meist alles in der Welt und damit auch die Natur einen bestimmten Grund, weshalb es existiert. Zum Beispiel gibt es Bäume, um Schatten zu spenden oder Seen wurden zum Baden gemacht. Das nennt Jean Piaget „finalistische Erklärungen“. Er erklärt diese Art zu Denken dadurch, dass Kinder zunächst nur Handlungen mit Bezug auf sich selbst erleben und daraus wiederum ihre Schlüsse ziehen. Demnach ist es aus ihrer Sicht nur logisch, dass sie es auf alles andere in der Welt einfach übertragen können.
Amelies Mutter fängt laut an zu lachen. „Auch deine Erklärungen für die Abläufe der Natur haben uns immer schmunzeln lassen.“ Jetzt lacht auch Amelie. „Ja ich weiß. Oma erzählt mir heute noch, dass ich immer behauptet habe, die Sonne geht auf, damit wir wach werden und der Mond kommt, wenn für uns Schlafenszeit ist.“
Der Weg aus der Fantasiewelt hinaus ist ein individueller Übergang
Da sich jedes Kind individuell entwickelt, können Kinder diese Phase des Egozentrismus schneller oder langsamer durchlaufen. Einige verlassen sie etwa mit fünf Jahren, andere erst mit sieben. Doch als Richtwert gilt: Mit dem Beginn der Schulzeit haben etwa alle Kinder diese Phase der Denkentwicklung abgeschlossen. Beim Übergang in die nächste Entwicklungsstufe beginnen die Kinder an magischen Wesen zu zweifeln und hören auf, Unbelebtes zu vermenschlichen oder zu beseelen. Sie legen diese Denkweise schließlich ab, indem sie sich durch gesammelte Erfahrungen gedanklich weiterentwickeln. Neue Lernprozesse werden angestoßen und sie werden zu immer realistischeren Schlüssen fähig. So gelangen Kinder Schritt für Schritt zu einer immer genaueren Betrachtung der Wirklichkeit und damit gleichzeitig zum Verschwinden des Glaubens an übernatürliche Wesen oder unbelebte Dinge mit Seele. Der Weg aus der Fantasiewelt eines Kindes hinaus in die Realität ist also kein plötzlicher Wechsel, sondern ein individueller Übergang.
Amelie packt schließlich alle Bilder wieder weg und fragt sich, wann sie den Glauben an die Magie verloren hat. Denn oft scheint ihr die Fantasiewelt doch gar nicht so unwirklich. Dabei denkt sie sich: „Noch einmal unbeschwert Kind sein.“ Auch wenn ihre Gedankenwelt damals offensichtlich nicht von Logik gelenkt wurde, war es doch schön in dieser kleinen Fantasiewelt.
*JEAN PIAGET (1896-1980)
Piaget schuf durch seine intensive Auseinandersetzung mit der kindlichen Gedankenwelt wichtige Grundlagen in der Entwicklungspsychologie und der Pädagogik. So ist die Theorie der kognitiven Entwicklung trotz mancher Kritik die systematischste und differenzierteste in ihrem Gebiet. Für eine Weiterentwicklung der Theorien forderte Jean Piaget selbst zu ihrer ständigen Verbesserung auf.
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