Gibt es Zufälle, wenn wir glauben?
Von religiösen Überzeugungen in einer unvorhersehbaren Welt
Wie lässt sich das Konzept des Zufalls in eine Welt einordnen, in der jedes Ereignis von einer höheren Macht intendiert ist? Hilft uns der Gedanke der Vorbestimmtheit und Begründbarkeit eines jeden Geschehens, uns vor Ereignissen, die wir nicht vorhersehen können, zu schützen? Und welche Schutzkonzepte haben die Menschen vor unserer Zeit entwickelt, um das zufällige Geschehen der Welt verstehen und erklären zu können?
von Klara Laue
Der Mensch und sein Glaube gehen, seit es den Menschengibt, Hand in Hand. Heutzutage gehören die meisten Menschen einer der fünf großen Weltreligionen: dem Christentum, dem Islam, dem Judentum, dem Buddhismus oder dem Hinduismus. Genauso können wir aber auch an andere Dinge glauben, wie die Wissenschaft, den familiären Zusammenhalt oder das Schicksal. Der Glaube schützt uns vor dem Gefühl, den Unvorhersehbarkeiten des Lebens ausgeliefert zu sein. Denn der Gedanke daran, dass jedes Ereignis dem Zufall unterliegt und wir in einer Welt des Chaos leben, lässt sich mit der menschlichen Natur nur schwer vereinbaren.
Der Glaube unserer Vorfahren überließ nichts dem Zufall. Die griechische Mythologie erklärt mit ihren Sagen und Erzählungen unter anderem geschichtliche Ereignisse, die in der Realität stattgefunden haben. Begründet werden sie meist mit dem Willen der Götter. Die Benennung Europas lässt sich demnach darauf zurückführen, dass sich der Göttervater Zeus in die gleichnamige Prinzessin Europa verliebt und sie auf die Insel Kreta entführt. Als seine Gattin, die eifersüchtige Hera, davon Wind bekommt, verlässt Zeus Europa schweren Herzens, benennt aber als Trost den Kontinent des Geschehens nach ihr.
Der trojanische Krieg entsteht der Sage nach durch einen Streit der drei olympischen Göttinnen Aphrodite, Pallas Athene und Hera, die sich darüber in die Haare kriegen, welche die Schönste von ihnen ist. Der mehr oder weniger zufällig anwesende trojanische Prinz Paris wird zum Richter des Streites erkoren und lässt sich von Aphrodite bestechen, die ihm die schönste Frau der Welt, die griechische Prinzessin Helena, verspricht. Obwohl der trojanische Krieg der Sage nach ein ganzes Jahrzehnt andauert und auf beiden Seiten tausende Opfer fordert, geht er in seinem Ursprung auf einen göttlichen Willen zurück.
Der Erzählung der Büchse der Pandora können wir entnehmen, dass der Mensch für alles Übel auf der Welt selber verantwortlich ist. Die Menschen frieren auf der Erde, bis ihnen der Titan Prometheus dazu verhilft, das göttliche Feuer vom Olymp zu stehlen. Als Strafe dafür schickt ihnen Zeus eine Büchse, die Krankheiten, Hass und Plagen enthält. Außerdem enthält sie die Hoffnung, was den Menschen – gängigen Interpretationen zufolge – vor seinem Untergang bewahrt hat.
All diese Sagen führen reale Ereignisse und Herausforderungen der Menschheit auf einen göttlichen Willen zurück und legen die Verantwortung dafür einer übernatürlichen Macht auf. Die Botschaft wird deutlich: Wer nach dem Willen der Götter handelt, muss keine Strafe fürchten. Zum Schutz vor der für das menschliche Auge unvorhersehbaren Zukunft befragte man in der Antike sogenannte Orakel. Dabei handelt es sich um Priesterinnen, die eine Vermittlungsinstanz zwischen den Göttern und dem Antwort-Suchenden darstellen. Während die Orakel der Antike hohes Ansehen genossen, wird die Kunst des Wahrsagens von einem rationalen Standpunkt aus heutzutage eher kritisch gesehen. Obwohl sich die griechischen Sagen heute noch unterhaltend lesen, hat sich das Bild des religiösen Glaubens seitdem gewandelt.
Die alten Griechen sahen in vielen Ereignissen einen göttlichen Willen und vermuteten darin die Antworten der Götter auf ihr eigenes Handeln. Frömmigkeit und Gehorsam wurden mit ertragreichen Ernten und günstigen Wetterlagen belohnt. Der Zorn der Götter über das menschliche Fehlverhalten äußerte sich in Dürren und Unwettern. Mit den Erkenntnissen der Naturwissenschaft können wir einige dieser Ereignisse heute erklären. Für die Entstehung eines Gewitters wurde früher bei den Griechen Zeus, bei den Römern Jupiter und bei den Germanen Thor in der Funktion als Donnergott verantwortlich gemacht. „Die Götter ärgern sich mal wieder“, hieß es dann und das Unwetter wurde als göttlicher Wille hingenommen.
Heute ist bekannt, dass Gewitter durch Spannungsdifferenzen in der Atmosphäre entstehen. Es handelt sich dabei um ein eindeutig erklärbares, meteorologisches Phänomen, das wir sogar im Vorfeld berechnen können. Die Funktion eines Donnergottes ist hiermit obsolet. Nichtsdestotrotz wäre es falsch anzunehmen, dass wir unseren Glauben an eine übernatürliche Macht nur dann brauchen, wenn wir uns ein Phänomen nicht erklären können. Anzunehmen, dass wir heutzutage nur noch glauben, um die Lücken zu füllen, die der naturwissenschaftliche Erkenntnisstand offenlässt, wäre ein Fehlschluss.
Doch wie lassen sich nun Glaube, Zufall und berechenbare Kausalität in unserer Zeit miteinander vereinen? Ein Glaube daran, dass alles vorbestimmt ist und wir keinerlei Einfluss darauf haben, was geschieht, lähmt unsere Handlungsfähigkeit und hindert uns daran, unsere Ziele zu erreichen. Glauben wir dagegen daran, dass alles, was sich ereignet, zufällig geschieht, nimmt uns das gleichermaßen die Möglichkeit, unsere Zukunft nach unseren Vorstellungen zu gestalten. Um also befähigt zu sein, von unserem freien Willen Gebrauch zu machen, müssen wir an eine Wahrheit glauben, die irgendwo zwischen einer vollständig vorbestimmten und einer vollständig zufälligen Weltordnung liegt. Ob wir dabei daran glauben, dass eine göttliche Macht Aspekte unseres Lebens bestimmt oder jedes Ereignis durch eine Nachverfolgung der vorangehenden Ursachen berechnet werden kann, wenn die entsprechenden Messinstrumente zur Verfügung stehen, ist zweitrangig. Entscheidend ist, dass sich der Glaube an eine Bestimmung und die Möglichkeit der zufälligen Fügung keineswegs ausschließen, sondern vielmehr beides zusammenwirkt und unseren freien Willen befähigt. Nur so erlangen wir Zuversicht in unser Handeln und finden den Mut, Entscheidungen zu treffen.
Die griechische Mythologie lehrt uns, dass uns die Hoffnung im Umgang mit den Herausforderungen des Menschseins unterstützt. In einer Welt, die gänzlich vorbestimmt ist, wäre die Hoffnung aber genauso sinnlos wie in einer Welt, in der jedes Ereignis dem Zufall unterliegt. Glaube und Zufall sind real und schließen sich keinesfalls gegenseitig aus. Vielmehr bietet der Glaube dem Menschen ein Regelwerk an, das ein gemeinschaftliches Leben ermöglicht und eröffnet ihm verschiedene Optionen, mit dem Unvorhersehbaren umzugehen. Trotzdem geschehen Dinge, für die wir keine rationalen Erklärungen finden. Die Prozesse, durch die wir Antworten auf diese Fragen finden, sehen bei uns allen anders aus. Uns verbindet aber, dass wir alle Überzeugungen haben, durch die uns das, was geschieht, plausibel erscheint. Ob diese Überzeugungen auf eine Reihe kausal zusammenhängender Erfahrungen zurückzuführen sind oder sie uns zufällig zu Teil werden, ist eine in der Philosophie umstrittene Frage. Dass wir aber zweifellos von etwas überzeugt sind, ist ein unabdingbares, menschliches Attribut.
Der Glaube stellt in unserer komplexen Welt nicht den Anspruch, für alles, was geschieht und geschehen ist, eine Erklärung zu liefern. Er lehrt uns vielmehr den Umgang mit allem, was wir weder voraussehen noch verstehen können.
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