Den musikalischen Emotionen auf der Spur
Jeder kennt die starke emotionale Wirkung, die Musik auf uns ausüben kann. Aber warum wirkt Musik emotional? Auch wenn diese Frage längst im Fokus verschiedener wissenschaftlicher Disziplinen steht – etwa in der Musikpsychologie* oder der Musikphysiologie* – gab es bislang keine einleuchtende Antwort. Auf der Spur der musikinduzierten Emotionen sind Daniela und Bernd Willimek, die beide an der Hochschule für Musik Karlsruhe studiert haben. Ihre Strebetendenz-Theorie ist eine Weiterentwicklung der musikpsychologischen Lehre Ernst Kurths* und bringt Licht ins Dunkel der musikalischen Emotionsforschung.
Warum ist es überhaupt so schwierig, sich der emotionalen Wirkung von Musik aus wissenschaftlicher Perspektive zu nähern? Bernd und Daniela Willimek sagen, das liege vor allem daran, dass es zwischen Musik und Emotion ein Zwischenglied gibt, das in seiner Bedeutung lange unterschätzt oder ganz ignoriert wurde. Dieses Zwischenglied sei der Wille. Denn Musik an sich könne eigentlich gar keine Gefühle erzeugen oder ausdrücken. Wie sollte das auch funktionieren? Wohl aber könne Musik abstrakte Willensinhalte suggerieren, mit denen sich der Musikhörer identifiziert. Durch diese Identifikation erschienen die abstrakten Willensinhalte emotional gefärbt. Das funktioniere ähnlich wie die Entstehung der Emotionen, die ein Fernsehzuschauer beim Anschauen eines Films empfindet. Denn dort identifiziere man sich beispielsweise mit seiner Lieblingsfigur und deren Willensinhalt. Erst durch diese Identifikation empfinde man den Willensinhalt emotional gefärbt.
Der wesentliche Unterschied in diesem Zusammenhang ist nun der, dass es in der Musik meist keine Figuren gibt, mit denen man sich identifizieren könnte. Die Identifikation vollzieht sich hier vielmehr anonym. Man identifiziert sich gewissermaßen mit einem anonymen Willen, der an keine Figur gebunden ist. Man könnte in diesem Zusammenhang auch von anonymer Empathie sprechen.
Doch woher kommt der Wille, mit dem man sich beim Musikhören identifiziert? Dieser Wille, so die Autoren, hat etwas mit dem zu tun, was Musiktheoretiker mit Begriffen wie „Leitton“* oder „Strebung“ bezeichnen. Diese Begriffe meinen nach traditioneller Auffassung Töne, die einen Drang oder eine spürbare Tendenz zur Verwandlung in einen Nachbarton in sich tragen.
Die Strebetendenz-Theorie widerspricht an diesem Punkt und sagt, dass es Leittöne, die streben, in diesem Sinne nicht gibt und dass „strebende Töne“ nicht einmal gedanklich vorstellbar sind. Diesen Zusammenhang veranschaulicht folgendes Experiment: „Versuchen wir uns dazu einen schweren Koffer vorzustellen, dessen Schwerewirkung wir fühlen wollen. Was genau stellen wir uns dann vor? Wir stellen uns vor, wir würden irgendwo stehen und einen schweren Koffer tragen. Das heißt jedoch, dass wir ein gedankliches Ausweichmanöver durchgeführt haben. Denn wir wollten uns eigentlich die Tendenz eines Koffers vorstellen, wegen der Schwerkraft nach unten zu fallen, haben uns in Wirklichkeit aber mit dem Willen identifiziert, den Koffer festzuhalten. Dieses Ausweichmanöver vollziehen wir, weil es uns nicht gelingt, uns die Tendenz eines Koffers, nach unten zu fallen, als sinnlich wahrnehmbar vorzustellen.“*
Analog zum Beispiel mit dem Koffer animieren Daniela und Bernd Willimek zum Versuch, sich einmal die drängende Tendenz in einem Ton zur Verwandlung in einen Nachbarton vorzustellen. Auch diese Vorstellung misslinge, weil sie unmöglich sei. Man könne sich immer nur Wahrnehmungen von gegenwärtigen Sinnesreizen vorstellen, nicht aber die Wahrnehmung von Tendenzen zu zukünftigen Veränderungen, argumentieren die Willimeks weiter. Auch beim Versuch, sich eine Strebetendenz im Ton vorzustellen, müsse man auf das zum Kofferbeispiel analoge Ausweichmanöver zurückgreifen: Man identifiziere sich mit dem Willen, den betreffenden Ton beizubehalten. Dies aber hieße im Klartext: Die Leittonwirkung ist die Identifikation mit dem Willen, den betreffenden Ton beizubehalten. Diese Einsicht sei nötig, um auf die Spur der musikinduzierten Emotionen zu kommen.
So erklärt die Strebetendenz-Theorie beispielsweise den Unterschied, den man Dur und Moll üblicherweise zuschreibt: fröhlich bzw. traurig. Der Leitton, die Terz* des Durklangs, die traditionell als strebend beschrieben wird, suggeriere in Wirklichkeit, dass sich der Hörer mit einem Gefühl des Einverstandenseins, des Bejahens identifiziere. Beim Mollklang ist der Leitton jedoch um einen Halbton erniedrigt, was in der Musiktheorie als Ermattung, als Erschlaffung beschrieben wird. Im Sinne der Strebetendenz-Theorie heißt das: Der Charakter des Einverstandenseins wird zum Charakter des Nicht-Mehr-Einverstanden-Seins. Das lässt sich nachempfinden, wenn man einen Mollakkord erst leise spielt und dann immer lauter wiederholt. Die Grundaussage des Moll, das Nicht-Mehr-Einverstandensein, bleibt, doch die emotionale Färbung ändert sich: Der leise Mollakkord klingt traurig, der laute wütend. Eine ähnliche Wandlung vollzieht sich, wenn ein Mensch die Worte „ich will nicht mehr!“ erst leise flüstert und dann laut herausschreit. Die leise Variante deuten wir als Ausdruck von Trauer, die laute als Ausdruck von Zorn.
Doch nicht immer wirken Dur fröhlich oder Moll traurig, was die Strebetendenz-Theorie auf den harmonischen Kontext zurückführt. So erklärt sich etwa, wieso Zwischendominanten – das sind häufig Durakkorde, die eine Modulation in Molltonarten einleiten – seit Jahrhunderten als Reizharmonie Verwendung finden und in der Musik von Johann Sebastian Bach die gleiche emotionale Betroffenheit auslösen wie im Song „Yesterday“ von den Beatles.
Eine andere Reizharmonie, der verminderte Septakkord, taucht seit dem Barockzeitalter als Ausdruck des Schreckens und Entsetzens auf, was schon Arnold Schönberg feststellte. Der Klang besteht beispielsweise aus den Tönen c-es-fis-a. Die herkömmliche Beschreibung seiner Strebetöne deutet die Strebetendenz-Theorie als mehrfache Identifikation des Hörers mit dem Affekt eines abrupten Festhalten-Wollens um, was durchaus den Eindruck von Panik und Verzweiflung erzeugen könne. Ein prägnantes Beispiel dafür ist die bekannte Barrabas-Szene aus Bachs Matthäus-Passion: Der verminderte Septakkord, auf dem der Aufschrei „Barrabam!“ steht, ist von aufwühlender Wirkung. Den Ausdruck von Wehmut dagegen, der in der berühmten „Air“ von Johann Sebastian Bach ebenso spürbar ist wie in Elton Johns „Your Song“, führt die Strebetendenz-Theorie auf die Subdominante* mit großer Septime* zurück. In diesem Klang, den beispielsweise die Töne f-a-c-e bilden, überlagern sich laut Strebetendenz-Theorie zwei verschiedene Ausdruckswerte, ein angenehmer und unangenehmer, die sich zu einem Gefühl von Wehmut vereinen.
Auch die Wirkung einzelner Intervalle lässt sich durch die Strebetendenz-Theorie erklären und beschreiben. Beispielsweise der Klangcharakter des „Teufelsintervalls“ Tritonus* durch die „heimtückische“ Zweideutigkeit seiner Leittoneigenschaften. Oder das Intervall der kleinen Sexte*, die der Musikwissenschaftler Deryck Cooke bereits in den 50er Jahren als furchteinflößend charakterisiert hatte, als Identifikation mit einem Festhalten-Wollen gegen das Umkippen in die Quinte, die vielfach als leer, öde und seelenlos beschrieben wird.
Keiner, der den Anspruch erhebt, über Musik und ihre emotionale Wirkung Aussagen zu machen, wird nach Meinung von Bernd und Daniela Willimek an der Strebetendenz-Theorie vorbeikommen. Seit ihrer Publikation unwiderlegt, ist sie als Grammatik zum Verständnis der emotionalen Wirkung von Musik brauchbar.
Denn seit Jahrhunderten bis in die heutige Zeit verwenden Komponisten musikalische Harmonien auf die darin beschriebene Weise. Auch nutzbringende Effekte der Strebetendenz-Theorie für verwandte Zweige der Musikwissenschaft sind denkbar, etwa für die Musiktherapie. Doch inwieweit damit eine Verfeinerung der musiktherapeutischen Diagnostik oder gar Heilung möglich ist, kann erst die Zukunft zeigen.
*MUSIKPSYCHOLOGIE
ist ein Teilgebiet der Musikwissenschaft, das sich der Erforschung der Musik, ihrer Wahrnehmung, ihres Erlebens und Verstehens mit psychologischen Methoden widmet.
*MUSIKPHYSIOLOGIE
ist der Überbegriff für die anwendungsorientierten Bereiche Körperarbeit und Mentaltechniken im Kontext der wissenschaftlichen Fachbereiche Musikermedizin und systematischer Musikwissenschaft.
*ERNST KURTH (1886-1946)
galt bis zur Machtergreifung durch die Nazis als bedeutendster Musiktheoretiker im deutschsprachigen Raum. 1931 erschien sein Buch „Musikpsychologie“. Aufgrund seiner jüdischen Herkunft wurde sein Werk von den Nazis unterdrückt. Auch in der neueren musikpsychologischen Forschung fand Ernst Kurth nur wenig Beachtung. Die Strebetendenz-Theorie führt seinen musikpsychologischen Ansatz weiter und zeigt Möglichkeiten der praktischen Anwendung.
*LEITTON
Laut Riemann Musiklexikon und zahlreichen anderen Quellen tragen bestimmte Töne, z.B. Leittöne, eine fühlbare Tendenz zur Verwandlung in andere Töne in sich. Ernst Kurth beschreibt die „gewaltige Zugkraft“ in Leittönen („Musikpsychologie“, 1931, S.13). Das Musiklexikon von Hans Joachim Moser erwähnt in diesem Zusammenhang die „gewissermaßen elektromagnetische Bewegungskraft“ (1955, S. 685).
Beispielsweise gilt in der Musiktheorie beim C-Dur-Akkord mit den Tönen c, e und g die Terz e als Leitton (mit der Tendenz nach oben zum Ton f). Im Septakkord mit den Tönen c,e,g und b gilt zudem die Septime b als Leitton (mit der Tendenz nach unten zum Ton a).
*ZITAT
Aus „Musik und Emotionen. Studien zur Strebetendenz-Theorie“, Daniela und Bernd Willimek, 2019, S. 13. Deutscher Wissenschafts-Verlag (DWV)
*TERZ
Die Terz eines Durdreiklangs ist der dritte Ton der Durtonleiter. Im C-Dur-Dreiklang mit den Tönen c, e und g ist die Terz der Ton e.
Die Playlist zum Artikel hier oder über den QR Code
Dieser Artikel nimmt Bezug auf das Buch „Musik und Emotionen. Studien zur Strebetendenz-Theorie“ von Bernd und Daniela Willimek, erschienen im Juli 2019 im Deutschen Wissenschafts-Verlag (DWV), ISBN 978-3-86888-145-5.
Darin stellen die Autoren ein Erklärungsmodell vor, das Emotionen beim Musikhören auf Identifikationen des Hörers mit Willensinhalten zurückführt. Mithilfe einer Studie, die in vier Kontinenten mit über 2000 Probanden durchgeführt wurde, zeigen die Autoren außerdem, dass die emotionale Wirkung musikalischer Strukturen mehrheitlich übereinstimmend bewertet wurde.
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