50+ shades of us
Vorstellungsgespräch. „Wer sind Sie? Stellen Sie sich uns bitte kurz vor!“ – „Ich bin Fabian Weis; ich bin Diplomphysiker und ausgebildeter psychologischer Berater; …“
Dachverbandstreffen. „Stellt euch kurz vor! Aus welchem Verein kommt ihr? Was macht ihr dort bzw. im Dachverband?“ – „Ich bin Fabian; ich komme von fuks* aus Karlsruhe; im Dachverband habe ich lange den Bereich Marketing geleitet, heute mache ich HR und bin Trainer; …“
Ein Date. „Erzähl mir was von dir! :-)“ – „Ich bin Fabian; ich koche gerne (und gut ;-)); ich mag gesellige Spieleabende und liebe es, mit Büchern in neue Welten einzutauchen; …“
Ich bin Fabian!?
All diese Antworten sind wahr und doch sind sie grundverschieden. All das bin ich – irgendwie.
Ich habe mal eine Geschichte gehört, in der der Protagonist daran verzweifelt, dass niemand ihn wirklich kennt – dass vielmehr jeder Mensch, dem er begegnet, in seinem jeweiligen Kopf eine eigene Version von ihm entwirft und glaubt, dieses Konstrukt sei er – irgendwie.
Freud teilte einst die Psyche in „Ich“, „Es“ und „Über-Ich“, einen bewussten, einen vorbewussten und einen unbewussten Teil. Im Alltag übernehmen wir Rollen: Wir sind Mitstudierende unserer Kommilitonen, Kinder unserer Eltern, Vertraute unserer Freunde. All das sind wir – irgendwie.
von Fabian Weis
In diesem Artikel werde ich verschiedenen Aspekten des Selbst nachgehen und ich möchte dich einladen, mit auf diese Reise zu kommen und diesen Artikel nicht nur zu lesen, sondern dir dabei parallel all die genannten Facetten, die Versionen, die „Doppelgänger“ deiner selbst anzusehen.
Unsere erste Station sind jene Aspekte unseres Selbst, die wir im Kontakt mit anderen konstituieren: die bereits erwähnten Rollen, die Label, die wir uns geben (lassen) und das Geflecht aus Erwartungen, die damit einhergehen. Viele dieser Identitäten müssen immer wieder bestätigt werden, insbesondere hierarchische: Niemand kann ein Anführer sein, ohne dass es Geführte gibt, aber auch kein Freund ohne ein Gegenüber, dem man Freund ist. Viele unserer Rollen sind dabei systemerhaltend und werden ihrerseits vom System erhalten. Im Großen wie im Kleinen: Brechen wir aus, verändert sich das System; ein Auszug von zu Hause, gegebenenfalls mit Umzug in eine neue Stadt, um nur ein Beispiel zu nennen. Für viele geht damit eine Abnahme der Kindesrolle und eine Zunahme der Rolle als selbstständiger Erwachsener einher. Möglicherweise verändert sich auch die geografische Identität – wo, wem und in welchem Maße wir uns zugehörig fühlen, prägt unser Selbstbild. Je nach Kontext mögen wir beispielsweise Karlsruher, Badner, Deutsche oder etwas ganz anderes sein. Auch das, was wir nicht sind, bestimmt unsere Identität, unsere „Selbsts“ – dort, wo wir uns mit anderen vergleichen, sind wir – je nach „Vergleichsobjekt“ – groß oder klein, reich oder arm, schlau oder hoffentlich auf dem Weg dorthin.
Manche Rollen mögen wir zunächst nur spielen, uns fremd darin fühlen; werden wir jedoch (oft genug) darin bestätigt, werden sie ein Teil von uns – beispielsweise wenn wir ein neues Ehrenamt übernehmen oder uns den Herausforderungen eines neuen Betätigungsfeldes stellen. Gleichzeitig müssen wir vorsichtig sein: Vieles von dem, was wir „sind“ oder vielleicht besser zu sein glauben, beruht auf den Geschichten, die wir und andere uns erzählen.
Dies ist Gefahr und Chance zugleich. Denn dieses Narrativ können wir – aber auch die anderen – jederzeit ändern. Ein gutes Beispiel dafür sind viele unserer „Persönlichkeitseigenschaften“ – ich bezeichne mich beispielsweise als introvertiert, aber was heißt das wirklich? Es bedeutet, dass ich gewisse Verhaltenspräferenzen habe und manche Strategien anderen vorziehe; nichtsdestotrotz gibt es Ausnahmen und diese gehören ebenso zu mir. Zudem müssen wir aufpassen, dass solche und weitreichendere „Diagnosen“ nicht zur Entschuldigung werden – drücken wir uns oder anderen Stempel auf, nehmen wir damit immer auch ein Stück Freiheit.
Nicht immer mögen wir mit anderen hinsichtlich ihrer Label für uns d’accord gehen. Manche „Wahrheiten“, Versionen unserer selbst in den Köpfen der anderen, müssen wir schlicht akzeptieren – sofern wir denn überhaupt von ihnen wissen – und manche dieser Vorstellungen sagen mehr über die andere Person aus als über uns … Andererseits kann uns die Konfrontation damit wertvolles Feedback geben, denn wie andere uns sehen, was andere von uns wahrnehmen, kann uns für unsere blinden Flecken sensibilisieren. Dabei geht es weniger darum, absolute Wahrheiten zu finden, sondern vielmehr darum, durch die Perspektivenvielfalt neue Zugänge zu unserem aktuellen Selbst und seinen Entwicklungsmöglichkeiten zu entdecken – sei es durch Kritik, konstruktives Feedback oder beispielsweise ein Lob, was dazu führt, dass wir zuvor als selbstverständlich wahrgenommene Fähigkeiten plötzlich als Ressource begreifen.
«Jenseits von richtig und falsch liegt ein Ort. Dort treffen wir uns.» – Rumi*
Stehen uns nicht genügend Perspektiven aus unserem Umfeld zur Verfügung, können Persönlichkeitstests diese ergänzen und uns wertvolle Einblicke in die unterschiedlichsten Aspekte unserer selbst ermöglichen: Welche Werte und Motive sind bei mir besonders ausgeprägt? Wo liegen meine persönlichen Stärken? Welcher Zeitmanagement-Typ bin ich und wie kann mir dieses Wissen dabei helfen, meinen Alltag so zu gestalten, dass er mir am besten entspricht?
Selbstverständlich bietet ein wissenschaftlich fundierter Test, der den üblichen Gütekriterien entspricht und der eine Normstichprobe als Vergleichsbasis verwendet, verlässlichere Einsichten. Profitieren können wir dennoch auch von guten Fragen und Ergebnissen in einer Vielzahl an weniger wissenschaftlichen, dafür aber einfacher zugänglichen Tests im Netz. Selbst der „Hogwarts-Haus-Test“ hat in meinem Freundeskreis bereits zu interessanten und einsichtsvollen Gesprächen geführt.
Und schließlich gibt es Aspekte, die den meisten Tests und „der Welt da draußen“ im Normalfall verborgen bleiben – unser Innenleben: unsere inneren Anteile, unsere Ziele, Wünsche und Träume, unsere (Ideal-) Vorstellungen davon, wie wir „wirklich“ sind. Und manchmal kann es sogar sinnvoll sein, dieses „Wir“ auf uns als Individuen zu beziehen. Da wären zum Beispiel der innere Kritiker, der innere Schweinehund, der innere „Sicherheitsbeauftragte“, der Diplomat, der Hedonist, der Abenteurer, … – alle ein Teil von „mir“; eine Dynamik, ein Kuddelmuddel, Ambivalenzen. Es kann sich lohnen, diese Anteile einzeln zu Wort kommen zu lassen, in sich hineinzuhören und zu lauschen, wie vielseitig „ich-wir“ sind.
Das macht es auch verständlicher, was Horváth* einst so vortrefflich auf den Punkt gebracht hat: „Ich bin nämlich eigentlich ganz anders, aber ich komme nur so selten dazu.“ Die meisten Menschen glauben, dass sie im tiefsten Inneren edel und gut sind. Wir unterliegen, wenn es um uns selbst geht, gewissermaßen einem „Positivitätsbias“. Das hat durchaus seinen Nutzen: Es macht es einfacher, mit all jenen Situationen umzugehen, in denen wir an uns selbst gescheitert sind. Wir können fehlerfreundlich lernen und über das „Situationsselbst“ hinauswachsen – in Richtung unseres/r „wahren Selbst/s“.
Dabei ist es ein bisschen ironisch, dass wir uns besonders dann echt und authentisch fühlen, wenn wir uns zugehörig fühlen – uns ein Stück weit anpassen, einen Habitus annehmen, der mit unserer Umgebung kompatibel ist. Auch das ist sinnvoll, besonders evolutionär betrachtet: Die Zugehörigkeit zur Herde bietet Schutz und so gehen sozial erwünschtes Handeln, gute Gefühle und „Echtheit“ oftmals Hand in Hand.
Wer wir sind enthält immer auch, wie wir dazu geworden sind. Wir sind gewissermaßen auf der Reise von der Person, die wir waren und die immer noch in den Köpfen der Menschen existiert, die wir lange nicht mehr gesehen haben – über die Person, die „ich-wir“ glauben zu sein – hin zu der, die wir sein werden. Unser Gehirn ist auch an dieser Stelle wieder ausgesprochen kreativ. Blicken wir zurück, so ist dieser Rückblick oft verzerrt, die Geschichten, die wir uns erzählen, bringen Ordnung in unsere Geschichte oder wie Kierkegaard* es einst ausdrückte: „Man kann das Leben nur rückwärts verstehen, muss es jedoch vorwärts leben“. Gleichzeitig hilft uns diese Neuinterpretation, „altes Verhalten“ – unsere „alten Ichs“ – hinter uns zu lassen, zu wachsen, zu lernen und Sinn zu finden.
Und die Reise geht weiter. Es gilt, neugierig zu bleiben, in noch unbekannte Aspekte unseres/r Selbst/s hineinzuwachsen. Das Leben wird uns zweifelsohne mit neuen Situationen in Berührung bringen. Wir können sie jedoch auch bewusst aufsuchen, um Neues an und in uns zu entdecken. Wer nicht abwarten will, kann sich auch im Geiste schon einmal einfühlen – unsere Körperreaktionen sind ein recht verlässlicher Indikator für jene Seiten unserer Geschichten, die es erst noch aufzuschlagen gilt.
«Das seltsame Paradoxon ist, dass, wenn ich mich so akzeptiere, wie ich bin, ich die Möglichkeit erlange, mich zu verändern.» – Rogers*
Was bleibt? Menschen sind vielfältig und bisweilen widersprüchlich, aber genau darin kann auch eine Stärke liegen – wird ein Aspekt unseres/r Selbst/s in Frage gestellt oder bricht er ganz weg, so gibt es stets eine Vielzahl weiterer Facetten, die uns ausmachen, auf die wir uns konzentrieren und die uns Halt geben können. Es gibt nicht die eine richtige Antwort auf die Frage, wer wir sind. Vielleicht sollten wir es mit Precht* halten: „Wer bin ich und wenn ja, wie viele?“
* FUKS
studentische Unternehmensberatung in Karlsruhe, eine der größten und ältesten Hochschulgruppen des KIT und Herausgeber dieses Magazins, das du gerade liest.
* RUMI (1207-1273)
Mystiker, Gelehrter und Dichter
* ÖDÖN VON HORVÁTH (1901-1938)
Schriftsteller
* SØREN KIERKEGAARD (1813-1855)
Philosoph, Theologe und Schriftsteller
* CARL ROGERS (1902-1987)
Psychologe, Psychotherapeut und Begründer der klientenzentrierten Gesprächstherapie
* RICHARD DAVID PRECHT (*1964)
Philosoph und Autor
Herausgeber
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Waldhornstraße 27,
76131 Karlsruhe
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