Zufälle, die die Welt verändern

von Sarah Alicia Fölsch

Was haben Mikrowellen, Viagra, Penicillin, Streichhölzer, Teflon und Röntgenstrahlen gemeinsam? Sie alle wurden durch Zufall entdeckt. Dass Belanglosigkeiten wie ein eingepackter Schokoriegel, ein vergessener Kristall oder eine Labor-Schlampigkeit Ereignisketten in Gang setzen können, die die Welt verändern, versetzt in Erstaunen. In der Forschung ist es keine Seltenheit, dass man bei der Suche nach etwas, zufälligerweise etwas ganz anderes findet. Die Fähigkeit, aus einer zufälligen Entdeckung eine bedeutsame Schlussfolgerung zu ziehen, bezeichnet man als »Serendipität«. Wie schon der französische Chemiker und Mikrobiologe Louis Pasteur 1854 sagte:

»Der glückliche Zufall begünstigt den darauf vorbereiteten Geist.«


Sechs bemerkenswerte Beispiele werden hier vorgestellt.

1826: Streichhölzer Der britische Apotheker John Walker experimentiert 1826 mit einigen Chemikalien (u.a. Kaliumchlorat und Antimon(III)-sulfid). Diese vermischt er in einem Schüsselchen mithilfe eines Holzstöckchens. Als er den Klumpen an der rauen Oberfläche des Schälchens abstreifen will, entzündet sich die Mischung urplötzlich. Walker erkennt das Potential des Streichholzes sofort, vergisst allerdings, ein Patent anzumelden. Das neue Zündprinzip verbreitet sich in der Öffentlichkeit wie ein Lauffeuer.

1895: Röntgenstrahlen Röntgenstrahlen sind eine Sorte elektromagnetischer Wellen, die energetisch oberhalb der Ultraviolettstrahlung (UV) liegt. Im internationalen Sprachraum kennt man sie unter dem Begriff X-Rays. Bis heute gehört diese Art der Strahlung zur medizinischen Standarddiagnostik.

Der deutsche Physiker Wilhelm Conrad Röntgen führt 1895 Experimente mit einer Elektronenröhre durch. Die Röhre schirmt er für die Durchführung vollkommen ab. Trotzdem bemerkt er den Leuchtschimmer eines fluoreszierenden Plättchens auf seinem Schreibtisch. Einige Kristalle, die von der Beschichtung des Plättchens übrig geblieben sind, leuchten ebenfalls. Röntgen erkennt die einzig plausible Schlussfolgerung: Es muss sich um eine unbekannte Strahlenart handeln, die ein Material abhängig von dessen Dichte durchdringen kann. Diese Entdeckung bringt dem Wissenschaftler 1901 den zum ersten Mal verliehenen Nobelpreis ein. Als begeisterter Hobby-Fotograf kommt er auf die Idee, die Strahlen auf Fotopapier zu bannen. Das erste Röntgenbild der Hand seiner Frau wird weltberühmt.

1928: Penicillin Der Einsatz der Penicilline als erste Antibiotika revolutioniert das moderne Verständnis für bakterielle Krankheitserreger. Natürlich vorkommende Penicilline werden von Schimmelpilzen gebildet. Der Bakteriologe Sir Alexander Fleming vergisst eines Tages vor seinem Urlaub einen Nährboden mit Bakterien, an denen er gerade forscht, an seinem Arbeitsplatz. Bei seiner Rückkehr muss er überrascht feststellen, dass die Bakterien an einigen Stellen durch einen Schimmelpilz, dessen Sporen möglicherweise durch die Luft auf den Nährboden gelangt sind, zurückgedrängt werden. Den bakterientötenden Stoff, den der Schimmelpilz offenbar hervorbringt, nennt Fleming Penicillin.

1938: Teflon Als der amerikanische Chemiker Roy Plunkett 1938 an neuen Kältemitteln forscht, lagert eine seiner Gasflaschen mit Tetrafluorethylen so lang, bis die Gasmoleküle sich durch ihre Teilchenbewegung von allein zu langen Ketten verbinden, die Roy eines Tages als weißes Pulver in der Gasflasche findet. Es handelt sich um Polytetrafluorethylen (PTFE), alias Teflon. Als dieses sich als hitzebeständig und unreaktiv mit praktisch allen anderen Stoffen herausstellt, ist klar, auf was für eine außergewöhnliche chemische Substanz Roy gestoßen ist, auch wenn er selbst noch nicht genau weiß, wozu Teflon nützlich sein kann. Wissenschaftler*innen bezeichnen die Entdeckung von Teflon als

»Beispiel für glückliche Fügung, einen Geistesblitz und einen glücklichen Zufall – sogar eine Mischung aus allen dreien«

Teflon gilt als glattestes Material, das es gibt und ist heute beispielsweise eine ideale Beschichtung für Kochgeschirr. Aber auch den rauen Bedingungen der Raumfahrt trotzt der Hochleistungskunststoff, was ihn schnell unerlässlich macht.

1946: Mikrowelle Der Begriff Mikrowelle bezeichnet hochfrequente elektromagnetische Wellen. Die Strahlung ist durch Wechselwirkung mit Materie in der Lage, Moleküle, wie etwa Wassermoleküle in Nahrungsmitteln, zum Schwingen anzuregen und damit zu erwärmen. Als der Ingenieur Percy Spencer 1946 während des zweiten Weltkrieges im Auftrag eines amerikanischen Rüstungskonzerns an Radaranlagen forscht, merkt er während eines Experiments plötzlich, dass der Schokoriegel in seiner Jackentasche unerwarteterweise schmilzt. Schnell erkennt Spencer die Mikrowellen-generierende Magnetfeldröhre, vor der er während des Experiment steht, als Ursache für den Erwärmungsprozess. 1954 wird die erste Mikrowelle mit einem Gewicht von 750 kg verkauft.

1998: Viagra Hinter Viagra, einem der meist verschriebenen Medikamente der Welt, verbirgt sich der Wirkstoff Sildenafil, der die Blutgefäße erweitert. Anfänglich soll Sildenafil als Mittel gegen erkrankte Herz-Kreislauf-Gefäße bei Frauen und Männern eingesetzt werden. Die klinische Testreihe der Herstellerfirma Pfizer bringt jedoch nicht das erhoffte Resultat ein. Trotzdem zeigen sich die männlichen Probanden derart begeistert von dem neuen Wirkstoff
und dessen Nebenwirkung, dass sie die übrigen Tabletten nach
Versuchsende nicht mehr zurückgeben wollen. Nachdem das Medikament in einer neuen Testreihe gezielt bei Männern mit Erektionsstörungen überzeugt, kommt Viagra schließlich als chemischer Erektionshelfer statt als Herzmittel auf den Markt.


Diese Art der unerwarteten und gleichsam bedeutenden Zufälle gibt es in der Wissenschaft immer wieder. Ist Forschung also pures Glück und kann damit jede*r den Nobelpreis gewinnen, so der Zufall es will? Die sechs vorgestellten Entdeckungen zeigen nicht nur, dass erfolgreiche Forschung durchaus eine Portion Glück gebrauchen kann. Sondern vor allem, dass gute Wissenschaftler*innen in der Lage sein müssen, das Potential solcher Zufälle zu erkennen und auszuschöpfen. Hoch lebe die Serendipität!

Herausgeber

fuks e.V. – Geschäftsbereich Karlsruher Transfer

Waldhornstraße 27, 76131 Karlsruhe transfer@fuks.org

Urheberrecht:

Alle Rechte vorbehalten. Die Beiträge sind urheberrechtlich geschützt. Vervielfältigungen jeglicher Art sind nur mit Genehmigung der Redaktion und der Autoren statthaft. Namentlich gekennzeichnete Artikel geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wider. Der Karlsruher Transfer erscheint einmal pro Semester und kann von Interessenten kostenlos bezogen werden.