Spuren der Großmutter aus dem Zweiten Weltkrieg

Eine bestimmte Schublade im Wohnzimmer hatte auf mich schon als Kind eine unglaubliche Anziehungskraft. In ihr befanden sich Stapel uralter handbeschriebener Papiere, von denen ich allerdings die meisten nicht lesen konnte, da sie in Sütterlinschrift verfasst waren. Besonderes Interesse weckten bei mir die Briefe meiner Großmutter Elisabet aus den Jahren 1939 bis 1943, die sie an ihren Mann Richard geschrieben hatte.

von Cornelie Bayer

Im Jahr 2008 begann ich zusammen mit meiner Mutter Renate, die Briefe zu entziffern und in eine lesbare digitale Form zu bringen. Meine Mutter konnte sich noch an einige Namen und Zusammenhänge aus dieser Zeit erinnern, daher kamen wir erstaunlich gut voran. Trotzdem machte die schiere Masse der gefundenen Briefe aus dem Vorhaben, alles zu transkribieren, eine echte Herkulesaufgabe. Elisabet hatte nämlich fast täglich einen Brief an ihren Mann verfasst, der als Reserve-Offizier schon vor Beginn des 2. Weltkriegs im August 1939 eingezogen worden war. Jeden Abend hatte sie sich hingesetzt und Richard berichtet, was ihr der Tag mit den drei Kindern, die damals elf, sechs und zwei Jahre alt waren, gebracht hatte. So entpuppten sich die Briefe als eine Art Tagebuch, das die Jahre 1939 bis 1943 ziemlich vollständig erzählt.
Ich erhielt Einblicke in einen Teil der Familien­geschichte, der lange vor unserer Zeit spielte und natürlich viel ausführlicher war, als meine Mutter – eine damals Elfjährige – sich erinnern konnte. Durch die Briefe bekam ich einen Eindruck davon, was für ein Mensch meine Großmutter gewesen war. Und nicht zuletzt war es äußerst interessant, sozusagen lesend mitzuerleben, wie sich der Alltag im Krieg mit drei Kindern gestaltete, während der Mann im Feld war, und welche Auswirkungen die Kriegszeit über die Jahre auf das Leben in Stuttgart hatte. Sei es die Versorgung mit Lebensmitteln, Kultur, Schule oder die Stimmung der Bevölkerung, all diese Dinge erfährt man nicht im Geschichtsunterricht in der Schule.
Bis dahin war mir z. B. nicht klar gewesen, wie zeitraubend die Beschaffung von Lebensmitteln, Kleidung, aber auch anderer Artikel des täglichen Bedarfs mit der Zeit wurde. Zum einen fehlten im Verkauf Männer, da sie größtenteils eingezogen wurden oder aber auf andere Weise „verschwanden“, was dazu führte, dass viele Geschäfte schließen mussten. Zum anderen wurde auch einfach nicht mehr genug produziert, da die Arbeiter fehlten, was in vielen Bereichen zur Rationierung von Gütern führte. Auch mussten Privat­haushalte manche Dinge an die Armee abgeben, wie zum Beispiel meine Mutter ihre Skier.
Stundenlanges Anstehen für Gemüse oder die Jagd nach einem Paar Kinderschuhe quer durch die ganze Stadt (alles mit der Straßenbahn oder zu Fuß) machten den Alltag mühsam. Ein weiteres Problem stellte auch die Verdunkelung* dar. So berichtete Elisabet einmal, dass eine Bekannte im Stockdunkeln mit dem Kopf gegen einen Laternenpfahl „gerannt“ war und eine blutende Wunde davontrug.

Heute habe ich F. getroffen, der erzählt hat, vorgestern sei Tante Käthe in der Dunkel­heit derartig auf einen Laternenpfahl gerannt, dass sie auf der Stirn eine klaffende, blutende Wunde von 6-7 cm Länge (!) habe.
Bei Dr. Baumann musste sie genäht werden (10 Nadeln) und es ist ein Wunder, dass sie keine Gehirnerschütterung hat.

10. November 1939

Elisabets Freude über die Anschaffung ­eines Radios im September 1939 machte mir zum ersten Mal richtig deutlich, wie die Menschen damals an Informationen kamen. Sie waren abhängig von den längst gleichgeschalteten staatlich kontrollierten Zeitungen. Das Radio überbrachte Nachrichten, wenn auch ebenso gleichgeschaltet, zumindest ein bisschen schneller. Ansonsten gab es nur noch die Wochen­schauen im Kino. Zugang zu unabhängigen Medien und Informationen aus verschiedenen Quellen, wie es für uns heute selbstverständlich ist, gab es schlicht nicht.

Wir hören immer so gern um ¾ 8 Uhr die politische Wochen­schau oder wie es heißt von Fritsche, der ist immer prima, er spricht so angenehm. Heute brachte er von einem Interview mit einem französischen Journalisten. Es ist kaum zu glauben, wie H.B. sagte, dass England in einem Jahr soweit gerüstet wäre, um Frankreich wirksam zu helfen. Jetzt seien schon ein paar Tausend Freiwillige da, um nach Frankreich gebracht zu werden. Ich möchte wissen, ob England tatsächlich nicht gut gerüstet ist, ob es tatsächlich an Uniformen usw. fehlt. Vielleicht bekommen England und Frankreich doch noch Krach. Eben sagte er am Radio, Shaw hätte gesagt: ‚Stürzt Churchill und macht Frieden mit Hitler!‘ Wenn nur die andern auch so klug wären! Wir wollen das Beste hoffen!

9. Oktober 1939

Aus politisch-historischer Sicht hielten die Briefe für uns auch einige harte Brocken bereit. Die Generation meiner Mutter hatte nie viel erzählt und auch auf Nachfragen oft nur einsilbig oder mit Hinweisen auf ihr jugendliches Alter geantwortet. Hier erlebten wir nun, wie begeistert sich unsere Familie und ihr Umfeld zu Kriegsbeginn äußerte. Meine Großmutter selbst war wohl eher ein unpolitischer, pragmatischer Mensch, ihr Enthusiasmus ließ im Lauf des Krieges merklich nach und sie wehrte sich auch still gegen die Instrumentalisierung ihrer Person, z. B. indem sie das Mutterkreuz* ablehnte. Doch wirklich kritisch war sie nie, Pflicht­erfüllung war das oberste Gebot.
Und hatte ich anfangs gehofft, etwas über ihre Wahrnehmung der Judenfeindlichkeit und das Verschwinden von Personen aus ihrem Lebensbereich zu erfahren, so wurde ich enttäuscht. Einmal verschwindet der Herrenschneider, doch das wird eher als Ärgernis empfunden und nur am Rande erwähnt, sonst äußert sie sich nie zu diesem Thema.
Für meine Familie gab ich im Jahr 2013 eine editierte Fassung der Briefe im Selbstverlag als Buch heraus. Ich fand es sowohl aus familiären als auch aus historisch-politischen Gründen wichtig, dieses Zeugnis einer vergangenen Zeit für die Nachwelt als lesbares Werk zu hinterlassen, anstatt es wieder als Stapel un­leserlicher Briefe in einer Schublade verschwinden zu lassen.
Ich möchte all denen, die sich für die Vergangenheit der eigenen Familie und unseres Landes interessieren, Mut machen, selbst ein bisschen auf Spurensuche zu gehen. Vielleicht gibt es ja auf dem ein oder anderen Dachboden einen ähnlichen „Schatz“ zu heben und damit einen Einblick in vergangene Zeiten zu gewinnen.

Um 5 Uhr bin ich ins Kino gegangen! Du wirst mich für pflicht­vergessen halten! Es war der erste Farbenfilm ‚Frauen sind doch bessere ­Diplomaten‘. Ich bin von den Farben nicht restlos begeistert, besonders das Grün in der Natur ist nicht echt, auch ist die menschliche Haut viel zu braun. Es ist eben ein Anfang. Der Film an sich ist ganz nett, Marika Rökk ist manchmal etwas ordinär, Temperament hat sie, das muss man sagen.

20. April 1942

* VERDUNKELUNG
Die Verdunkelung war eine Maß­nahme des Luftschutzes bei Nacht. Sie sollte bei Luftangriffen feindlicher Flieger die Orientierung und das Auffinden der Ziele erschweren. Dafür mussten alle Fenster absolut lichtdicht gemacht werden und die Straßenbeleuchtung wurde abgeschaltet.

* MUTTERKREUZ
In der Zeit des Nationalsozialismus wurden Frauen aus dem öffentlichen Leben verdrängt und ihre Rolle auf die Gebärende und Mutter reduziert. Um die Gebärfreudigkeit zu steigern und aufzuzeigen, wie wichtig ihr Beitrag, den sie in Form von Kindern erbrachten, für das Reich war, wurde Frauen ab dem 3. Kind das Mutterkreuz verliehen.

Cornelie Bayer

geht in ihrer Freizeit gerne auf Ahnenforschung und entdeckt dabei immer wieder spannende Geschichten und Verbindungen in alle Welt.

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