„Schizophrenie ist keine Spaltung des Geistes“
das Interview führten Lena Kaul und Nadine Lahn
Was ist Schizophrenie aus medizinischer Sicht? Wie äußert sich die Erkrankung?
Wolf: Aus medizinischer Sicht bin ich sehr vorsichtig, von „der“ Schizophrenie zu sprechen. Ich würde eher von „den Schizophrenien“ sprechen, denn das ist keine einheitliche Erkrankung. Hinter dem Begriff verbergen sich heterogene Erkrankungen mit unterschiedlichen Verläufen und Symptomen. Auch würde ich in medizinischer Hinsicht weniger von einer „Krankheit“ sprechen, denn die Ursachen der Schizophrenien sind bisher noch nicht klar erforscht. Ein eindeutiges kausales Krankheitsmodell ist derzeit nicht verfügbar, der Begriff der „Störung“ ist daher passender.
Schizophrenien sind gekennzeichnet durch sehr charakteristische Symptome, die immer wieder auftreten können. Dies geschieht meist episodisch, aber bei einem Teil der Betroffenen auch durchgängig. Die Symptome umfassen sehr tiefgreifende Veränderungen des Denkens und der Wahrnehmung. Dazu gehören Veränderungen des sprachlichen Ausdrucks oder auch unumstößliche Überzeugungen, die Außenstehende objektiv nicht nachvollziehen können. Es kann bei den Betroffenen zu einem Realitätsverlust kommen, welcher jedoch nur von außen betrachtet als solcher erscheint. Aus Sicht des Erkrankten ist das Erlebte „real“. Weitere Symptome wie Sinnestäuschungen, das Hören von Stimmen, Halluzinationen im Riechen oder Fühlen, das Gefühl, gesteuert oder manipuliert zu werden, Veränderung von Willensentscheidungen, Emotionszuständen, körperlichen Zuständen oder der Kognition können dazukommen.
Schaaf: Ich möchte an den Punkt von Herrn Wolf anschließen, dass die Schizophrenie nicht eine definierte Krankheit ist. Man könnte fast von einem „Schizophrenie-Spektrum“ sprechen, das heißt, die Symptomatik kann von Patient zu Patient sehr unterschiedlich sein, aber sie wird durch einige gemeinsame Schlüsselsymptome definiert.
Wie lässt sich Schizophrenie von anderen Krankheiten abgrenzen? Warum verwechseln viele Menschen Schizophrenie mit einer gespaltenen Persönlichkeit?
Wolf: Ich denke, das liegt letztendlich an einer unglücklich gewählten Terminologie, welche die Missverständnisse schafft. Die Terminologie der Schizophrenie existiert schon etwa 110 Jahre und wurde von dem Schweizer Psychiater Eugen Bleuler eingeführt. Die vorherige Bezeichnung lautete „dementia praecox“, bei der die vorzeitige Abnahme kognitiver Funktionen im Vordergrund stand. Bleuler bezeichnete die Erkrankung als „Schizophrenie“, abgeleitet vom Altgriechischen „schízein“ (spalten) und „phren“ (Geist). Wortwörtlich kann dies also als „gespaltener Geist“ verstanden werden. Tatsächlich gemeint war allerdings, dass die Schizophrenie nicht die Krankheit, sondern den Zustand des Erkrankten beschreibt.
«Das Gespaltene ist sozusagen das ‚Nicht-Einfühlbare‘ in das Denken des Erkrankten»
Das äußert sich z. B. so, dass dieser zwei Worte nicht richtig verbinden kann, also eine sprachlich assoziative Einschränkung hat – wir würden heute von einer „formalen Denkstörung“ sprechen. Es kann sich außerdem darin äußern, dass die Denkinhalte für andere nicht nachvollziehbar sind, da sie keine für andere Menschen objektivierbare Realität reflektieren – so wie das bei Wahn der Fall ist. Das „Gespaltene“ ist sozusagen das „Nicht-Einfühlbare“ in das Denken des Erkrankten. Das bezieht sich eher auf die Loslösung von der Wirklichkeit und auf den Zerfall der Denkprozesse, nicht auf eine Spaltung des Geistes.
Zu dieser Terminologie gibt es viele Missverständnisse, die negativ konnotiert sind. Bei der multiplen Persönlichkeitsstörung, die „dissoziative Identitätsstörung“ heißt, treten die meisten Merkmale der Schizophrenie nicht auf. Dazu gehören z. B. das Halluzinatorische und die sprachlichen Veränderungen. Auch die multiple Persönlichkeitsstörung ist keine Spaltung, eher ein Changieren von Identitäten mit jeweiligem Gedächtnisverlust für die anderen Identitäten. Dagegen ist sich der schizophren Erkrankte jederzeit bewusst über die eigene Person, selbst wenn sie, z. B. im Wahn, bedroht oder verfolgt wird.
Wir haben jetzt schon aus medizinischer Sicht gehört, was das Krankheitsbild bei einer Schizophrenie ausmacht. Was verbinden Sie, Herr Schulz, persönlich mit dem Begriff Schizophrenie?
Schulz: Ich hatte schon viele der Symptome, die Herr Wolf genannt hat. Beispielsweise dachte ich, dass ich mit einem Nagel Radio hören kann und mein Kopf ein Sender oder Empfänger ist. Ich hatte auch schon Geruchshalluzinationen. Momentan bin ich fast symptomfrei, bis auf ein paar kleinere Reizüberflutungen. Ich nehme meine Medikamente ein und das war’s. Ich führe ein ganz normales Leben – ich gehe auch arbeiten. Für mich hat der Begriff „Schizophrenie“ nichts Schreckliches an sich. Ich habe seit etwa 1980 eine paranoid-halluzinatorische Schizophrenie*, lebe mit dieser Krankheit und habe gelernt, damit umzugehen. Und ich weiß auch genau, was ich tun muss, wenn es mal kritisch wird. Das ist für mich genauso einfach, wie Tabletten gegen meinen Bluthochdruck einzunehmen. Mit dem Begriff habe ich keine negativen Assoziationen. Früher habe ich mich noch richtig krank gefühlt, das habe ich heute nicht mehr, weil ich jetzt voll ins Leben integriert bin, auch durch meine Arbeit als EX-IN-Genesungsbegleiter* am Klinikum Heidelberg.
Wie hat sich die Schizophrenie zu Beginn bei Ihnen geäußert? Welche Symptome hatten Sie am Anfang und wie kam es dazu, dass sie diagnostiziert wurde?
Schulz: Am Anfang hatte ich sogenannte „Körpersensationen“*. Da hatte ich ein Gefühl im Kopf, das man eigentlich gar nicht beschreiben kann. Damals hatte ich meinen ersten Aufenthalt auf der Station „Behringer“, heute „Roller“, auf die ich zur Beobachtung kam. Dort war ich ein halbes Jahr und wurde mit Medikamenten behandelt.
Ich habe mich gefühlt, als hätte ich einen Stahlhelm auf dem Kopf und auch die gesamte Psyche und das Gefühlsleben waren durcheinander. Daraufhin erhielt ich die Diagnose: abgeklungene Depression. Danach habe ich mich selbst entlassen und war ein Jahr zu Hause, bis es zur zweiten Einweisung kam.
«Ich habe mich gefühlt, als hätte ich einen Stahlhelm auf dem Kopf»
Hier stand dann das paranoid-Schizophrene schon im Vordergrund. Damals habe ich mich noch geschämt, krank zu sein und davon zu erzählen. Nach meinem zweiten und dritten Aufenthalt bin ich dann offensiv damit umgegangen und habe den Leuten erzählt, was ich habe. Ich wollte mich nicht dauernd verstecken müssen und habe eigentlich immer gute Erfahrungen damit gemacht.
Könnten Sie uns einmal aus medizinischer Sicht beschreiben, wie die Diagnose erstellt wird?
Wolf: Die Diagnose basiert auf klinischen Kriterien, in Kenntnis des vielfältigen klinischen Erscheinungsbildes der Störung, verbunden mit einer sorgfältigen Ausschlussdiagnostik. Das bedeutet, dass viele Erkrankungen, die eine körperlich fassbare Ursache haben, zunächst ausgeschlossen werden müssen, weil diese auch eine andere Behandlung benötigen. Die klinischen Kriterien basieren auf den vorliegenden Symptomen, z. B. Wahn, Halluzinationen, Verlust der Ich-/Umwelt-Grenzen. Es gibt noch andere Symptombereiche, z. B. des motorischen und körperlichen Ausdrucks wie der Emotionalität oder Affektivität. Die Patienten müssen eine bestimmte Anzahl an Symptomen über einen bestimmten Zeitraum – mindestens einen Monat – aufweisen, um dann im Ausschluss anderer Ursachen die Diagnose stellen zu können. Sie können beispielsweise Symptome haben, die denen einer Schizophrenie ähneln, aber die aufgrund einer Intoxikation mit Drogen auftreten oder die Folge eines langsam wachsenden Tumors sind.
Schaaf: Von genetischer Seite ist es wichtig zu betonen, dass die Diagnose „Schizophrenie“ immer eine klinische Diagnose ist, die auf dem Verhalten und den Symptomen des Patienten basiert. Aufgabe der Humangenetik kann es sein, die mögliche Ursache oder genetische Prädisposition für eine Schizophrenie zu identifizieren, nicht aber die Diagnose an sich zu stellen oder zu verwerfen.
Wann sollte denn eine genetische Abklärung erfolgen?
Schaaf: Treten Schizophrenien oder andere psychiatrische Erkrankungen gehäuft in einer Familie auf oder tritt eine Schizophrenie mit weiteren Symptomen auf, z. B. mit geistigen Behinderungen oder Herzfehlern, kann eine Überweisung an den Humangenetiker sinnvoll sein. Mit Hilfe zytogenetischer und molekulargenetischer Tests können wir uns auf die Suche nach der Ursache der Krankheit machen. Es gibt da einige klassische Beispiele, wie das 22q11.2-Mikrodeletions-Syndrom. Hier fehlt ein kleines Stück chromosomalen Materials. Das ist eine der häufigsten Mikrodeletionen*, die wir in unserer Klinik sehen. Diese kann sich auf ganz unterschiedliche Arten manifestieren, aber 25 Prozent der betroffenen Personen entwickeln im Erwachsenenalter eine Erkrankung des schizophrenen Formenkreises.
Wir haben bereits über die Ursachen gesprochen und dass eine Schizophrenie auch genetische Hintergründe haben kann. Sind die Ursachen denn schon vollständig erforscht bzw. ist es immer eine genetische Ursache?
Schaaf: Die Ursachen sind noch nicht vollständig verstanden und erforscht. Hinweise darauf, wie groß der genetische Anteil an den Ursachen ist, kommen aus Zwillingsstudien. Anhand solcher Zwillingsstudien hat sich gezeigt, dass der genetische Anteil in der Krankheitsentstehung bei Schizophrenie etwa zwischen 60 und 80 Prozent liegt. Allerdings ist es so, dass es sich in den meisten Fällen nicht um eine einzige, sondern mehrere genetische Veränderungen handelt, die dann, wenn sie gemeinsam auftreten, sozusagen einen Schwellenwert überschreiten und zur klinischen Manifestation führen. Nicht jeder, der das veränderte Gen in sich trägt, muss auch zwangsläufig eine Schizophrenie entwickeln.
An diesem Schwellenwertmodell lässt sich auch gut verstehen, inwieweit die Umweltebene eine Rolle spielt. Nehmen wir an, die Schwelle liegt bei zehn Punkten. Wenn jetzt eine genetische Prädisposition mit sechs Punkten vorliegt, dann müssen durch Umwelteinflüsse, wie z. B. Drogen oder traumatische Ereignisse im Leben, zusätzliche Belastungen entstehen, damit die Schwelle überschritten wird. Es gibt aber sicherlich auch Personen, bei denen die genetische Last schon so hoch ist, dass gar keine Umwelteinflüsse mehr hinzukommen müssen. Dann wiederum gibt es Menschen, die mit sehr wenigen oder gar keinen solcher Belastungen geboren werden – bei ihnen müsste so viel Umwelteinfluss hinzukommen, dass es sehr unwahrscheinlich (aber möglich) ist, dass sie im Laufe ihres Lebens eine Schizophrenie entwickeln werden.
Was sind aktuell die Therapiemöglichkeiten bei einer schizophrenen Erkrankung?
Wolf: Medikation ist sicherlich eine sehr wichtige Säule der Behandlung, aber sie ist bei Weitem nicht alles. Mittlerweile wurden in der Therapieforschung eine ganze Reihe von Möglichkeiten identifiziert, die sich für eine Behandlung von Menschen mit einer Schizophrenie als wirksam gezeigt haben. Jegliche Therapie und jede Therapieplanung muss sich neben der wissenschaftlichen Datenlage auch an einer Vielzahl anderer Faktoren orientieren. Dazu gehören z. B. Vorerkrankungen und das Umfeld des Betroffenen. Die Wahl der Behandlung ist somit immer eine individualisierte, multimodale Behandlung.
Eine sehr hohe Bedeutung hat mittlerweile die Psychotherapie erlangt. Sie hat bei Menschen mit einer schizophrenen Erkrankung eine gute Wirksamkeit bewiesen, zumindest unter bestimmten Ausgangsvoraussetzungen. Dann kommen noch vielfältige andere Maßnahmen in Bezug auf Umweltvariablen hinzu, das heißt beispielsweise Unterstützung bei der Tagesstruktur oder in Bereichen wie Beruf, Partnerschaft, Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Das erfordert einen sehr hohen interdisziplinären Einsatz. Die Behandlung von Menschen mit einer schizophrenen Störung wird wesentlich gestützt durch Ärzte, Psychotherapeuten, Sozialarbeiter, Ergotherapeuten oder auch komplementäre Einrichtungen in der Gemeinde, die soziale Integration und Teilhabe ermöglichen, aber auch durch Selbsthilfegruppen und Angehörige. Die Langzeitbehandlung hat also ein recht großes Ausmaß an Komplexität erlangt. Wenn wir über schizophrene Störungen sprechen, ist es mir wichtig, dass wir nicht sagen: zunächst einmal die Medikation. Sicher ist dies eine wichtige Säule und vor allem in der Akutphase kaum verzichtbar. Aber es ist nicht so, dass es keine anderen wirksamen Therapiemöglichkeiten gibt.
Nun würde uns bei Ihnen, Herr Schulz, interessieren, wie Ihre persönliche Geschichte mit der Schizophrenie aussieht. Können Sie uns das kurz beschreiben?
Schulz: Mein Krankheitsverlauf gliedert sich fast in zweimal 20 Jahre. In der ersten Hälfte hatte ich durch die Medikamente und auch durch die Krankheit bedingt immer Unruhe- bis Angstzustände, weshalb ich dann meistens die Medikamente weggelassen habe, wodurch die Angstzustände gelindert wurden. Aber dann wurde ich psychotisch*, hatte wieder einen schizophrenen Schub. Das heißt, das war diese sogenannte „Drehtür-Psychiatrie“*. Ab den 90ern habe ich dann meine Medikamente regelmäßig genommen, hatte aber immer wieder Phasen, in denen ich Unruhe- bis Angstzustände hatte. Das kam immer in Schüben – so ein- bis dreimal die Woche. 1997 hatte ich einen längeren Klinikaufenthalt und da bin ich auf das atypische Medikament* Olanzapin eingestellt worden und damit hat sich das dann gebessert. Dann konnte ich auch eine Ausbildung machen.
Wie gehen Sie mit Ihrer Erkrankung im Alltag um?
Schulz: Es ist sehr wichtig, dass man einen Ausgleich hat zwischen Beruf, Krankheit und Privatleben. Das Schlimmste ist, wenn ich als Genesungsbegleiter einen Menschen vor mir habe, der eigentlich keine Interessen für irgendetwas hat und nur so in den Tag hineinlebt. Die haben dann praktisch nur ihre Krankheit.
«Nur Medikamente einnehmen reicht nicht»
Ich selbst habe versucht, kreativ damit umzugehen. Ich habe sehr viele Hobbys und Interessen: Ich male, meditiere, lese in der Bibel, habe ein spirituelles Leben und einen guten Kreis von Freunden und jetzt auch ein gutes Arbeitsklima in der Werkstatt und in der Klinik. Man muss immer das Gesamtpaket sehen – nur Medikamente einnehmen, das reicht nicht. Man muss auch, wenn es einem möglich ist, etwas dafür tun, dass es einem gut geht. Bei der Genesungsbegleitung ist es der Begriff der Recovery: Wie bleibe ich stabil? Wie erhöhe ich meine Resilienz, also meine Widerstandsfähigkeit?
Sie haben gerade Ihr Umfeld angesprochen: Familie, Freunde, Arbeit. Wie waren die Reaktionen in Ihrem Umfeld? Wie geht Ihr Umfeld generell damit um?
Schulz: Also ich gehe offen damit um, ich sage das auch zu gewissen Anlässen. Natürlich, wenn ich jetzt im akuten Schub bin, falle ich schon aus der Rolle und falle auch auf, aber die letzten 20 Jahre habe ich eigentlich normal gelebt. Also ich falle nicht auf. Mein Umfeld ist der alte Freundeskreis. Die haben immer Bescheid gewusst. Wenn ich damit offen umgehe, habe ich eigentlich nur positive Erfahrungen damit gemacht.
Sie haben vorhin das sog. EX-IN-Genesungsprogramm* angesprochen. Erzählen Sie uns doch bitte einmal, wie dieses Programm funktioniert.
Schulz: Menschen, die in der Psychiatrie gewesen sind oder die eine scharfe Krisenerfahrung hatten, bringen Expertenwissen mit und das soll im Rahmen des EX-IN-Programms genutzt werden. EX-IN ist trialogisch aufgebaut, das heißt, man befindet sich als Betroffener, Behandler und Angehöriger auf einer Ebene und man versucht praktisch, vom reinen Ich-Wissen zum Wir-Wissen zu kommen.
Bei dem Kurs, den man absolviert, um Genesungsbegleiter zu werden, sind immer zwei Trainer vor Ort. Das ist in der Regel ein Profi, entweder ein Sozialarbeiter oder ein Arzt, und der zweite Kursleiter ist ein Betroffener, sodass man immer beide Sichtweisen hat. Bei einer Schizophrenie oder bei einer psychiatrischen Erkrankung gibt es immer zwei Sichtweisen. Einmal die Sichtweise der Ärzte und des Pflegeteams und einmal die Perspektive des Kranken selbst. Und ich habe den Vorteil, dass ich beide Seiten kenne. Der Arzt oder der Therapeut sieht eigentlich nur von außen, was abgeht. Ich weiß dagegen ganz genau, wie sich der Patient fühlt, ohne groß fragen zu müssen. Als EX-IN-Genesungsbegleiter bin ich praktisch an der Nahtstelle zwischen Behandlungsteam und Patienten. Die Patienten sagen mir manchmal Dinge, die sie vielleicht einem Arzt oder Krankenpfleger nicht sagen würden.
Es macht sehr viel Spaß, als Genesungsbegleiter zu arbeiten. Es ist immer wieder spannend, wenn man sieht, was man selbst bewirken kann oder wenn man mitverfolgen kann, wie ein Patient langsam wieder Herr der Lage und gesund wird.
Das klingt auf jeden Fall nach einem sehr bereichernden Programm. Dann haben wir noch eine abschließende Frage: Was möchten Sie Betroffenen und vielleicht auch Angehörigen mit auf den Weg geben?
Schulz: Das hört sich jetzt ein bisschen „schulbuchmäßig“ an, aber wichtig ist, dass man den Mut und den Humor nicht verliert. Und das Zweite ist, dass man auch krankheitseinsichtig wird. Denn das gehört mit zum Gesundungsprozess, dass man weiß, ich bin krank und die Leute außen herum verstehen nicht, was los ist. Das ist sehr wichtig, dass man Krankheitseinsicht hat. Ebenso wichtig ist, dass man Geduld mitbringt. Außerdem hat mir mein Glaubensleben sehr geholfen. Ich bin Christ und ich habe daraus sehr viel Kraft gezogen. Das geht auch in die Richtung: Welchen Sinn sehe ich in meinem Leben? Die Sinnfrage muss jetzt nicht unbedingt christlich sein, aber es ist wichtig, dass man irgendeinen Sinn in seinem Leben sieht.
Wolf: Herr Schulz hat schon sehr viel gesagt, was ich nach jahrzehntelanger Arbeit mit Menschen mit Schizophrenie auch genau so unterstützen würde. Es ist wichtig, sich mit der Krankheit auseinandersetzen zu wollen und dann auch professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen. Aber es geht auch darum, dass professionelle Helfer im System die Rolle von krankheitsbewältigenden Hilfen einnehmen können und weniger verstanden werden als absolute Autoritäten, die Betroffenen mitteilen: „Sie haben eine Erkrankung. Die müssen wir jetzt behandeln.“ – ohne Vorerfahrungen, Wünsche, Präferenzen und individuelle Lebensentwürfe sorgfältig zu berücksichtigen.
«Niemand von uns ist genetisch perfekt»
Schaaf: Ich würde davon Abstand halten, Betroffenen Ratschläge zu geben. Ich möchte mich vielmehr an alle von uns und vor allem an die Leser wenden und dazu appellieren, darüber nachzudenken, wie stark psychiatrische Erkrankungen in der Bevölkerung, u. a. die Schizophrenie, stigmatisiert sind und wie schnell manche von uns voreilig urteilen über die Betroffenen. Da will ich den Gedanken noch mal ins Gedächtnis rufen, dass niemand von uns genetisch perfekt ist und dass es uns alle treffen kann. Ich halte es für ganz wichtig, dass wir zum einen den Betroffenen mit Offenheit und Verständnis gegenübertreten und dass wir zum anderen auch im allgemeinen Sprachgebrauch versuchen, besser zu reflektieren und eine Wortwahl wie „das ist ja voll schizo“ vermeiden.
*PARANOIDE SCHIZOPHRENIE
ist die am häufigsten auftretende Form von Schizophrenie. Dabei haben die Betroffenen häufig Wahnvorstellungen (z. B. Verfolgungswahn) oder Halluzinationen (z. B. Stimmenhören).
*EX-IN-GENESUNGSPROGRAMM
EX-IN steht für „Experienced Involvement“, also die Beteiligung Psychiatrie-Erfahrener am Genesungsprozess psychisch erkrankter Personen. Es ist eine Qualifizierung mit dem Ziel, das Erfahrungswissen der Teilnehmer weiterzuentwickeln, der „Ver-rückung“ einen Sinn zu geben, die persönliche Weiterentwicklung zu fördern und letztlich auch psychiatrische Angebote zu verbessern. Der Kurs besteht aus 12 Modulen und dauert ein Jahr. Dabei geht es um Themen wie Salutogenese (Wie bleibe ich gesund?), Empowerment (Wiedererlangung der eigenen Handlungsfähigkeit), Recovery (Wiedererstarken), Selbsterforschung und Fürsprache. Der Kurs besteht außerdem aus zwei Praktika mit je 40 bzw. 80 Stunden. Im Rahmen eines Portfolios und einer Abschlusspräsentation können die Teilnehmer die gelernten Inhalte und ihre persönlichen Qualifikationen und Ansichten nochmals reflektieren.
*KÖRPERSENSATIONEN
sind körperliche Empfindungen (z. B. erhöhter Herzschlag), die von den Betroffenen beispielsweise in stressigen Situationen stärker erlebt und möglicherweise fehlerhaft bewertet werden.
*MIKRODELETIONEN
Deletion bezeichnet den Verlust eines DNA-Abschnitts und ist somit eine Form der Genmutation. Bei Mikrodeletionen sind die Stückverluste der Chromosomen so klein, dass sie unter dem Lichtmikroskop nicht sichtbar sind und nur durch spezielle Techniken nachgewiesen werden können.
*PSYCHOTISCH
Unter einer Psychose versteht man eine psychische Störung, die durch einen tiefgreifenden strukturellen Wandel im Erleben des eigenen Ichs und der Umwelt gekennzeichnet ist. Kernsymptome einer Psychose sind Wahn und Halluzinationen.
*DREHTÜR-PSYCHIATRIE
ist ein umgangssprachlicher, negativ konnotierter Begriff und beschreibt das Phänomen, dass Patienten kurze Zeit nach ihrer Entlassung wieder in die Klinik müssen. Dies lässt sich beispielsweise darauf zurückführen, dass sich der Zustand unter Einfluss der Medikamente im Krankenhaus verbessert, es zuhause dann aber an Nachsorge durch ambulante Dienste mangelt und somit z. B. die Unterstützung für die Alltagsgestaltung fehlt. Aber auch das vorzeitige Absetzen rückfallverhindernder Medikation oder Therapieabbrüche nach der Entlassung aus der stationären Behandlung können Gründe sein.
*ATYPISCHE ANTIPSYCHOTIKA
Antipsychotika werden in der Schizophrenie-Therapie eingesetzt, da sie antipsychotisch und teils schlafanstoßend, angstlösend oder stimmungsstabilisierend wirken. Früher so genannte „atypische“ Antipsychotika (heute spricht man von Antipsychotika der zweiten Generation) basieren im Gegensatz zu den „typischen“ Antipsychotika, die bereits in den 1950er Jahren auf den Markt kamen, auf anderen Wirkungsmechanismen und sollen weniger „typische“ Nebenwirkungen (v. a. motorische Einschränkungen) hervorrufen als solche der ersten Generation.
Prof. Dr. med. Christian P. Schaaf
ist ärztlicher Direktor des Instituts für Humangenetik Heidelberg mit einem wissenschaftlichen Schwerpunkt im Gebiet der neuropsychiatrischen Genetik. „Besonders spannend finde ich, wie die Veränderung von einem einzigen von sechs Milliarden Buchstaben im menschlichen Genom die Entwicklung des Gehirns und die Psyche so beeinflussen kann, dass dadurch bestimmte Symptome auftreten, z. B. dass wir mehr oder weniger sozial agieren, dass wir ein besonders gutes Langzeitgedächtnis haben oder kaum ein Gedächtnis bilden können.“
Prof. Dr. med. Robert Christian Wolf
arbeitet als leitender Oberarzt an der Klinik für Allgemeine Psychiatrie der Universität Heidelberg. Seine klinischen und wissenschaftlichen Schwerpunkte sind die Früherkennung, Differenzialdiagnostik und Therapie affektiver und schizophrener Störungen. Das Thema „Schizophrenie“ begleitet ihn klinisch und wissenschaftlich seit seiner Promotionsarbeit auf diesem Gebiet. Dabei interessiert ihn besonders, wie die Betroffenen Stimmen hören können und wie Wahn entstehen kann.
Kai Uwe Schulz
lebt seit etwa 40 Jahren mit einer paranoiden Schizophrenie und hat eine umfangreiche Klinikerfahrung. Heute ist er nahezu beschwerdefrei und arbeitet als ausgebildeter Kommunikationselektroniker in der Werkstatt „Ikarus Rhein-Neckar“ in Heidelberg. Zudem ist er qualifizierter EX-IN-Genesungsbegleiter an der Psychiatrischen Universitätsklinik Heidelberg auf derselben Station wie Dr. Wolf.
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