Man schätzt das Leben mehr, wenn man jeden Tag mit dem Tod konfrontiert wird– Ein Interview mit Michael Tsokos

Professor Michael Tsokos zählt zu den bekanntesten Rechtsmedizinern in Deutschland. In seinem Arbeitsalltag untersucht er Verstorbene auf verschiedenste Muster, die Aufschluss über die Todesursache und deren Hintergründe geben. Seit 2007 leitet er das Institut für Rechtsmedizin der Charité in Berlin. In den letzten 25 Jahren hat er tausende Leichen obduziert; einige seiner Fälle verarbeitet er als Bestsellerautor in seinen „True-Crime-Thrillern“. Uns hat Michael Tsokos erzählt, wie ein Arbeitstag bei ihm aussieht, welche Fälle ihn besonders fordern und warum manche Film-Klischees über Rechtsmediziner weit an der Realität vorbeigehen.

Das Interview führte Laura Jörger

Herr Professor Tsokos, wie haben Sie zum Beruf des Rechtsmediziners gefunden und warum haben Sie sich dafür entschieden?                                                                                         

Ich war in meinem Medizinstudium an fast allen medizinischen Disziplinen interessiert. Als ich Anatomie hatte, wollte ich Anatom werden, später Chirurg, dann Neurologe oder Internist. Am Ende meines Studiums kam die Rechtsmedizin. Dort lief für mich alles zusammen: Wir sehen in der Rechtsmedizin Elemente aus allen Fachbereichen, z. B. innere Erkrankungen, den Zustand des Körpers nach chirurgischen Eingriffen, vorbekannte neurologische Störungen oder Schlaganfälle. Dazu kam außerdem mein Interesse für die kriminalistischen Aspekte, das in den Vorlesungen geweckt wurde.

In Filmen und Serien kommt der Rechtsmediziner meist bei der Obduktion von Mordopfern zum Einsatz. Welche Aufgaben haben Sie als Rechtsmediziner tatsächlich? 

Es wird immer suggeriert, dass wir nur bei Mord und Totschlag aktiv werden. Wir obduzieren aber einen Großteil der Fälle als sogenannte „Sicherheitsobduktionen“, das heißt zum Ausschluss einer äußeren Gewalteinwirkung. Ein Beispiel: Es wird jemand tot auf einer Parkbank aufgefunden. Es finden sich keine Zeichen äußerer Gewalt, deshalb geht man im Normalfall nicht von einem Mord aus. Um sicher ausschließen zu können, dass sich dahinter nicht doch ein spurenarmes Tötungsdelikt verbirgt, wird die Person obduziert. Ein anderes Beispiel wäre, wenn jemand im Zustand hochgradiger Leichenfäulnis in einer Wohnung gefunden wird. Auch dann führen wir eine Obduktion durch, weil eine äußere Leichenschau unergiebig ist. Außerdem obduzieren wir Wasserleichen oder hochgradig fäulnisveränderte Leichen nicht nur zur Klärung der Todesursache, sondern auch zur Identifizierung.

Wie sieht ein normaler Arbeitstag bei Ihnen aus?             

Ich bin um 7 Uhr morgens im Institut. Um 7.30 Uhr haben wir eine Frühbesprechung mit allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern aus dem Sektionsbereich. Dabei tauschen wir uns über die Fälle vom vorherigen Tag und über die Fälle, die an diesem Tag anliegen, aus. Um kurz vor 8 Uhr geht es in den Sektionssaal. In den beiden Berliner Instituten, die ich leite, führen wir täglich rund 12 bis 14 Obduktionen durch. Gegen Mittag bin ich dann in meinem Büro. Dort diktiere ich die Obduktionsbefunde und lese Akten, die z. B. gutachterliche Fragestellungen enthalten. Für mich als Hochschulprofessor besteht der normale Arbeitsalltag – außerhalb von Pandemie-Zeiten – außerdem aus Seminaren und Vorlesungen. Im Moment hat sich alles ins Internet, als Online-Tutorials oder auf Instagram (@dr.tsokos), verlagert. Darüber hinaus fahre ich in Krematorien, um dort die gesetzlich vorgeschriebene zweite Leichenschau durchzuführen und ich bin vor Gericht als Sachverständiger tätig. Mein Arbeitsalltag ist also relativ facettenreich, ich mache aber nicht alles jeden Tag.

Für die meisten Menschen ist die Obduktion eines Leichnams unvorstellbar. Wie schaffen Sie das?

Die Frage wurde mir schon häufig gestellt und ich stelle dann gerne die Gegenfrage: „Wie hält das jemand aus, der auf der Kinderkrebsstation arbeitet?“ Das ist für mich zum Beispiel unvorstellbar. Ich wurde schon im Medizinstudium an das Thema herangeführt, denn ich hatte in der Anatomie viele Semester mit Leichen zu tun. Man muss sich völlig frei machen von Emotionen. Die Leiche ist eine leere Hülle und kein Mensch mehr in dem Sinne, was sie vorher mal war. Es ist ein Körper und an diesem Körper untersuche ich Spuren und Hinweise darauf, was vor dem Tod passiert ist. Man muss außerdem die Distanz wahren. Das wird umso schwieriger, wenn es sich um Kinder handelt, die z. B. bei Unfällen oder Tötungsdelikten ums Leben kamen.

Also gibt es Fälle, die Sie emotional besonders berühren?

Ja, Todesfälle von Kindern. Dabei ist es unerheblich, ob das Kind ertrunken ist, weil die Eltern die Gefahr des Wassers unterschätzt haben oder das Kind zu Tode misshandelt wurde. Kindliche Todesfälle berühren mich sehr. Das hat für mich eine ganz andere Qualität als bei einer Person, die mit über 90 Jahren im Pflegeheim verstorben ist und bei der nun die Fragen bestehen, ob sie richtig behandelt wurde und was passiert ist. Ich sage nicht, dass ein Leben mehr wert ist als ein anderes — aber das ist eine Bilanz von mir persönlich. Jemand, der über 80 oder 90 Jahre alt ist, hat sein Leben gehabt. Wenn einem Kind aber das Leben genommen wird, hat das auch für mich als Vater eine ganz andere Wertung.

Welche Eigenschaften machen einen guten Rechtsmediziner aus?

Als Rechtsmediziner braucht man einen guten Magen und man darf nicht geruchsempfindlich sein. Darüber hinaus muss man auf den Punkt konzentriert sein. Wenn man nachts um 2 Uhr zu einem Tatort gerufen wird, dann muss man Leistung bringen, unabhängig von der Uhrzeit. Absolute Objektivität ist ebenfalls wichtig, denn auch bei kindlichen Todesfällen sind Sachlichkeit und Emotionslosigkeit essenziell. Man kann sich dann abends Gedanken darüber machen, aber bei der Untersuchung selbst dokumentiert man methodisch alle Befunde. Manchmal kommt es auch vor, dass eine innere Erkrankung zum Tod des Kindes geführt hat und es keine Misshandlung war. Wir können somit auch Eltern oder andere unter Verdacht stehende Personen exkulpieren, also nachweisen, dass sie nicht schuldig sind. Aus diesem Grund ist es wichtig, die Objektivität, Emotionslosigkeit und professionelle Distanz zu den Verstorbenen zu wahren.

Das Schreiben ist eine Art Therapie, weil man die Möglichkeit hat, furchtbare Dinge anders laufen zu lassen. – Michael Tsokos

Welche technischen Möglichkeiten hat die Rechtsmedizin heute im Vergleich zu früher? Welche Neuerungen würden Sie sich selbst wünschen?

Die Computertomografie ist eine technische Möglichkeit, die es seit 10 Jahren bei uns in Berlin gibt, in vielen rechtsmedizinischen Instituten in Deutschland gibt es sie aber nicht. Wir können uns durch Oberflächenscans und durch Röntgenschichtaufnahmen ein genaues Bild von Verletzungen im Körper machen. Das hat tatsächlich die gesamte Rechtsmedizin revolutioniert. Eine weitere Neuerung ist die Haaranalyse. Auch wenn wir kein Blut oder keinen Urin haben, können wir mithilfe von Haaren und auch Nägeln Aussagen über den Konsum von Drogen, Alkohol und Medikamenten treffen. Dieses Verfahren haben wir an der Charité weiterentwickelt. Sowohl die CT als auch Haaranalysen sind Möglichkeiten, die uns ganz neue Diagnostik, Analytik und Einblicke erschließen. Ich würde mir wünschen, dass es einen Test gibt, mit dem man durch die Haut nachweisen kann, ob jemand mit einer Intoxikation oder erhöhten Werten von Medikamenten gestorben ist. Dann könnte man schon bei einer äußeren Leichenschau feststellen, ob z. B. eine in einem Altenheim verstorbene Person durch zu hohe Medikamentendosen vergiftet wurde. Das kann man bis heute leider nicht und ich wüsste auch nicht, mit welcher Technik man dort ansetzen könnte, sonst hätte ich das schon längst gemacht.

Wie stehen Sie zu den typischen Rechtsmedizinern aus Film und Fernsehen?

Ich sehe das entspannt. Es ist nicht so, dass ich sage „Da wird unser Berufsbild verzerrt“. Ich finde z. B. Jan Josef Liefers als kauzigen Professor Boerne super – das schaue ich mir regelmäßig an. Das hat mit echter Rechtsmedizin natürlich so gut wie nichts zu tun, aber ich schaue das ja auch nicht zur Fortbildung, sondern um mich unterhalten zu lassen.

Welche Klischees über den Beruf des Rechtsmediziners können Sie nicht mehr hören?

Im Film „Schweigen der Lämmer“ wird erzählt, dass sich Rechtsmediziner vor der Obduktion Mentholpaste unter die Nase schmieren, das gibt es nicht! Wir Rechtsmediziner brauchen unseren Geruchssinn, da bestimmte Gerüche Anzeichen für Erkrankungen sein können. Das betrifft z.B. eine Alkoholvergiftung, die nach Lilien riecht oder einen entgleisten Diabetes, der fruchtig riecht. Da nervt es mich schon manchmal, wenn Leute das erste Mal hier sind und fragen: „Wo ist denn die Mentholpaste?“. (lacht) Ein weiteres Klischee, das auch von Jan Josef Liefers im Tatort befeuert wird, ist, dass bei der Obduktion klassische Musik gehört wird. Außerdem werden Rechtsmediziner oft als schrullige, kauzige Typen dargestellt – das sind wir nicht, wir sind ganz normale Leute.

Verhält man sich im eigenen Leben anders, wenn man jeden Tag mit dem Tod konfrontiert wird?

Ich würde sagen, dass man das Leben mehr schätzt, wenn man jeden Tag mit dem Tod konfrontiert wird. Ich versuche intensiv Zeit mit meinen Kindern zu verbringen, Zeit draußen zu genießen, die Ferien wirklich als Urlaub zu sehen und dann einfach für die Familie da zu sein. Wir sind viel mit dem Fahrrad unterwegs und fahren gelegentlich mit dem Motorboot raus. Ich versuche mit den Kindern viel zu entdecken, ob das nun im Herbst Pilze sammeln oder im Sommer angeln ist – so ein bisschen abseits vom Alltäglichen.

Wie schaffen Sie es, Ihre verschiedenen Berufe als Rechtsmediziner und Bestsellerautor unter einen Hut zu bekommen?

Gutes Zeitmanagement ist wichtig. Wenn ich z. B. auf dem Weg zu einem Kongress fünf Stunden im Zug sitze, dann habe ich meinen Laptop dabei und schreibe. Man muss tatsächlich sehr diszipliniert sein und versuchen, jedes freie Zeitfenster zu nutzen und nicht am Handy zu sitzen oder einen Film zu schauen. Ich kann zum Glück sehr schnell schreiben, d.h. wenn ich mich mal einen Tag hinsetze, dann habe ich schon zehn bis fünfzehn Seiten. Das ist dann natürlich nicht der finale Guss, aber zumindest ein Gerüst.

Warum haben Sie sich entschieden, neben Ihrem Beruf als Rechtsmediziner Krimis zu schreiben?                         

Das lag an Sebastian Fitzek. Ich habe ihn kennengelernt und bin mit ihm ins Gespräch gekommen. Er fragte mich, ob ich nicht auch mal Lust hätte, ein Buch zu schreiben. Ich meinte zu ihm, dass ich zwar eine richtig gute Geschichte hätte, aber nicht glaubte, dass ich das könnte. Ich habe ihm dann den grundlegenden Plot von „Abgeschnitten“ erzählt und dann hat er mich drei Tage später angerufen und gefragt, ob wir das nicht zusammen machen könnten. Dadurch bin ich angefixt worden. Es hat mir unheimlich viel Spaß gemacht, mit dem Verlag auf Buchmessen zu gehen, Kontakt mit Leserinnen und Lesern zu haben und Lesungen zu geben. Dann habe ich gesagt: „Das mache ich jetzt auch selbst weiter!“.

Hilft Ihnen das Bücherschreiben auch bei der Verarbeitung der Dinge, die Sie täglich zu sehen bekommen?

Wenn Sie mich das vor fünf Jahren gefragt hätten, hätte ich nein gesagt. Heute sage ich ja. Ich glaube, dass es eine Art Therapie ist, weil man die Möglichkeit hat, furchtbare Dinge anders laufen zu lassen. Wenn man Fälle, die in Wirklichkeit anders passiert sind, als Inspiration nimmt, kann man seinen Protagonisten gut durch das Fachliche und das Leben lotsen und kann den Bösen auch mal „einen mitgeben“. Das ist schon eine Art Therapie.

Viele Ihrer Bücher sind „True-CrimeThriller“. Welche Fälle inspirieren Sie für Ihre Arbeit als Autor?

Fälle, die sich wirklich so zugetragen haben, aber so unglaublich anhören, dass man jedem Drehbuchautor den Verstand absprechen würde, wenn man das im Fernsehen sieht – eben das Nicht-Alltägliche ist es, was mich reizt.

Ihr neues Buch „Die 7. Zeugin“, welches Sie gemeinsam mit Florian Schwiecker geschrieben haben, ist Ihr erster Justiz-Krimi. Wie kamen Sie auf die Idee? Und wie viel Michael Tsokos steckt in Dr. Justus Jarmer?

Florian Schwiecker war früher Strafverteidiger in Berlin und hat die richtig schweren Jungs verteidigt. Er ist ein guter Freund von mir und hat bereits zwei Thriller geschrieben. Da war die Symbiose zwischen uns naheliegend. Wir haben uns überlegt, das Genre Justiz-Krimi in Deutschland neu zu beleben, was uns wohl auch gelungen ist, wenn man sich die derzeitige Bestsellerlisten-Platzierung von „Die 7. Zeugin“ ansieht. (lacht) Dr. Justus Jarmer hat so einiges von mir mit auf den Weg bekommen, genauso wie die zweite Hauptfigur im Buch, Strafverteidiger Rocco Eberhardt, von Florian Schwiecker inspiriert ist und seine autobiografischen Züge trägt.

Als Rechtsmediziner braucht man einen guten Magen und man darf nicht geruchsempfindlich sein. – Michael Tsokos

MICHAEL TSOKOS
Univ.-Prof. Dr. med. Michael Tsokos, geboren am 23. Januar 1967 in Kiel, ist Rechtsmediziner und Leiter des Instituts für Rechtsmedizin der Charité sowie des Landesinstituts für gerichtliche und soziale Medizin in Berlin. 2014 gründete er die Berliner Gewaltschutzambulanz, die eine wichtige Anlaufstelle für Opfer von Gewalt
und Misshandlung darstellt. Außerdem ist er Autor von zahlreichen Sachbüchern und True-Crime-Thrillern, wovon einige bereits verfilmt wurden. Seit November 2020 gibt er auf seinem Instagram-Profil @dr.tsokos Einblicke in den Sektionssaal und seine tägliche Arbeit.

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