Unvorstellbare Aphantasie – Wenn das innere Auge fehlt
von Ella Lutzweiler
Erinnerst du dich an deine letzte Mahlzeit, das Bett, in dem du die Nacht verbracht hast und der Raum, in dem du aufgewacht bist? Wenn du daran denkst, was genau geht in deinem Kopf vor? Wahrscheinlich siehst du vor deinem inneren Auge ein mehr oder weniger konkretes Bild. Doch das geht nicht jedem so.
Wir können nicht in die Köpfe Anderer schauen. Was vor unserem inneren Auge passiert, kann von Mensch zu Mensch ganz unterschiedlich sein. Wenn ich dir jetzt sage, du sollst dir einen Flamingo bildlich vorstellen, dann klingt das im ersten Moment vermutlich sehr simpel. Klar – du denkst nun an einen Flamingo. Aber wie genau sieht er aus? Ist er farbig oder grau? Hat er konkrete Umrisse oder ist er verschwommen? Schaut er nach rechts oder links? Ist er gezeichnet oder realistisch? Steht er auf einer Wiese, im Zoo oder schwebt im Nichts? Das innere Auge ist bei jedem Menschen individuell. So auch der Grad der Genauigkeit, mit der man dieses mental image erzeugen kann. Es gibt jedoch auch Menschen
ganz ohne visuelle Vorstellungskraft. Dann ist da kein Bild, kein mental image, kein drittes Auge. Vielleicht stellst du sogar fest, während du diesen Artikel liest, dass du dazugehören könntest.
Dieses Phänomen nennt sich Aphantasie. Den bisherigen Erkenntnissen zufolge könnten bis zu drei Prozent der Menschen Aphantasisten sein. Bei dieser Zahl handelt es sich jedoch um eine grobe Schätzung – viel weiß man noch nicht. Aphantasie und der Einfluss auf Erinnerungen ist noch ein sehr neues Forschungsfeld. Im Jahr 1880 wurde das Phänomen erstmals beschrieben, jedoch erst in den 2010er Jahren neu aufgegriffen. Erst im Jahr 2015 hat man überhaupt begonnen, Studien vorzunehmen. Was man weiß, ist, dass es sich bei der Aphantasie um keine Krankheit oder Behinderung handelt. Dafür verzeichnen Betroffene zu wenig Leidensdruck. Generell lässt sich auf deren Alltag kaum Rückschlüsse ziehen. Menschen, die Aphantasie haben, sind zudem in jedem Lebensbereich und Beruf anzutreffen. Es scheint weder von Vorteil noch von Nachteil zu sein.
Aphantasie wird meist auf den Sehsinn bezogen. Wie konkret und detailgetreu wir uns Dinge vor unserem inneren Auge vorstellen können, ist von Mensch zu Mensch unterschiedlich. Wie bei vielem im Leben handelt es sich vermutlich um ein Spektrum. Generell schwankt jedoch die Intensität, mit der man sich Empfindungen der verschiedenen Sinneswahrnehmungen einbilden kann. Kannst du denselben Satz von verschiedenen Leuten gesprochen in deinem Kopf abspielen? Von deiner Mutter, einer Freundin? Ein Song den du kennst in einem anderen Genre hören? Gerüche vorstellen, die Strukturen von Oberflächen spüren?
Doch was bestimmt die Aphantasie? Bezogen auf den Sehsinn vermuten Forschende, dass bei Aphantasisten die Verbindung zwischen zwei Gehirnregionen, die des Frontalkortex und des visuellen Kortex, gestört ist. Dies betrifft jedoch nur das bewusste Visualisieren, unbewusste Bilder, zum Beispiel in Träumen oder bei einer Hypnose, können trotzdem entstehen. Dieses Phänomen ist in den meisten Fällen angeboren. Oftmals bemerken Betroffene erst spät im Leben, dass sie anders denken. Manche bemerken es nie. Es gibt jedoch auch Fälle, in denen das Phänomen erst nach einem Unfall auftritt. Diese Menschen sind Ausnahmen, bieten jedoch am meisten Potential für die Forschung, da sie ein Leben mit und ohne Aphantasie kennen.
Da diese neuronale Eigenheit gänzlich im Kopf stattfindet und somit schwer nachzuvollziehen ist, bietet das Gespräch mit Aphantasisten wertvolle Einblicke. Ich durfte ein paar Fragen stellen.
WIE HAST DU FESTGESTELLT, DASS DU APHANTASIE HAST?
Einem selbst fällt das erst mal gar nicht auf, man kennt ja nichts anderes. Ich habe dann erst in einem Gespräch mit einer Freundin bemerkt, dass man in der Hinsicht unterschiedlich denkt. Wir haben konkret darüber geredet, wie wir über Themen nachdenken und haben beide bemerkt, dass wir da ganz unterschiedlich sind.
DU KANNST KEINE VISUELLEN BILDER IN DEINEM KOPF ERZEUGEN. WAS PASSIERT DANN IN DEINEM KOPF, WENN DU AN DAS AUSSEHEN VON ETWAS DENKST?
Das kann man ein bisschen mit Bildbeschreibungen vergleichen. Wenn man sich online einen Zeitungsartikel vorlesen lässt, dann wird einem auch das Bild mitbeschrieben. Und so in der Art ist das bei mir auch. Es läuft dann eine Art Bildunterschrift durch, in Wörtern, aber ohne Ton. Das ist dann einfach da.
STELLT ES EINE BELASTUNG FÜR DICH DAR, KEINE BILDER IM KOPF ERZEUGEN ZU KÖNNEN?
Nicht wirklich, ein bisschen vielleicht. Ich stelle es mir cool vor, sich Bilder vorstellen zu können. Für andere ist das aber so normal, Bilder zu sehen, wie es für mich ist, sie nicht zu sehen. Im Alltag habe ich nicht das Gefühl, dadurch eingeschränkt zu sein. Mir ist aber aufgefallen, dass es Lernstrategien gibt, die mit Visualisierungen arbeiten, die bei anderen besser funktionieren als bei mir, weil sie mit der visuellen Vorstellungskraft arbeiten.
ERINNERST DU DICH AN DEIN KINDERZIMMER? WIE SIEHT DIESE ERINNERUNG AUS UND WAS GEHT IN DEINEM KOPF VOR, WENN DU DARAN DENKST?
Wenn ich an mein Kinderzimmer denke, dann fallen mir da in erster Linie Tätigkeiten ein, die ich damals dort gemacht habe. Ich assoziiere den Raum dann zum Beispiel direkt mit puzzeln, dem Umgestalten vom Zimmer oder, dass ich damals viel darin getanzt habe. Oder ich denke daran, dass mein Kinderzimmer eine Art Rückzugsort war. Aber mir kommt kein Bild vor Augen, wie das damals aussah. Ich weiß es einfach, nur eben ohne Bild.
WIE SIEHT GANZ GENERELL EINE ERINNERUNG BEI DIR AUS? WIE GEHST DU DAMIT UM?
Ich merke mir nicht so sehr, wie Dinge oder Orte aus meinen Erinnerungen aussahen. Da kommen mir dann eher Verknüpfungen in den Kopf, ein bisschen so wie hashtags. Wenn ich zum Beispiel an den ersten Tag in der Uni denke, erinnere ich mich an Verwirrung, Unsicherheit und neue Freunde. Ich könnte auch den Raum beschreiben, in dem wir die Einführungsveranstaltung hatten. Ich sehe ihn aber nicht vor mir und denke auch nicht automatisch daran, wenn ich mich zurückerinnere.
Sicherlich wird in den kommenden Jahren viel Neues über Aphantasie ans Licht kommen. Wenn dich das Thema interessiert oder du dir nicht sicher bist, ob du auch von Aphantasie betroffen bist, dann gibt es Selbsttests, die eine erste Einordnung ermöglichen.
https://aphantasia.com/vviq/
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