Das Erinnern der Literatur/ Wissenschaft

von PD Dr. Christian Meierhofer

Festtage, Gedenkorte, Straßennamen, Denkmäler, bestimmte Begriffe oder Jahreszahlen lösen Erinnerungen aus. Sie sind nicht auf einzelne Individuen begrenzt, sondern erwecken gemeinsame Assoziationen, werden von anderen geteilt, weitergetragen, übernommen oder auch vergessen, fallengelassen, verboten. Oft genügt schon eine kurze Information, um das kollektive Gedächtnis zu aktivieren und um sich an vergangene Ereignisse zu erinnern, auch wenn man selbst gar nicht dabei war: Columbus, 1789, Sedan, Verdun, Auschwitz, 1989, 9/11, Sommermärchen. Solche gemeinsamen Erinnerungen unterscheiden sich von privaten oder individuellen Erinnerungen, weil ihnen gesellschaftliche Relevanz zugemessen wird und weil sie als Wissensbestand auch institutionell, etwa in Schule und Studium, verankert sind. Der französische Theoretiker Maurice Halbwachs hat darauf hingewiesen, dass das Gedächtnis nicht allein ein psychologisches Phänomen ist. Das Gedächtnis ist auf zweifache Weise soziogen, das bedeutet, es entsteht innerhalb einer Gemeinschaft und lässt umgekehrt Gemeinschaften entstehen. Persönliche Erinnerungen sind insofern immer eingebettet in einen gemeinschaftlichen Erinnerungshaushalt. Kulturwissenschaftlich gewendet haben diese Überlegung Aleida und Jan Assmann. Sie differenzieren zwischen einem kommunikativen Kurzzeitgedächtnis, das die Vergangenheit der letzten drei oder vier Generationen umfasst und nicht viel länger als hundert Jahre zurückreicht, und einem kulturellen Langzeitgedächtnis, das etwa in den Ritualen der mündlichen Stammesgesellschaften oder in den Umgangsformen neuerer Schriftkulturen durch Wort, Bild und Tanz zum Ausdruck kommt. Nicht nur an Hochschulen kommt eine Gattung zum Einsatz, die in der Rhetorik als Wiedergebrauchsrede bezeichnet wird und die sich bei Eröffnungsveranstaltungen, Erstsemesterbegrüßungen oder in Vorlesungen formelhaft und ritualisiert verwenden lässt – mitunter zum Leidwesen der Zuhörer*innen.
Literaturgeschichtlich besehen, sind zwei große Umstellungen für das Problem der Erinnerung wichtig, die sich in der Neuzeit vollziehen: Zum einen spricht die antike Rhetorik noch vom Gedächtnis als einer kognitiven Eigenschaft des Redners (memoria), der damit seine Argumente auswendig vortragen konnte. Doch ebendiese Leistung ist nicht mehr erforderlich, sobald das zu Erinnernde schriftlich fixiert, physisch ausgelagert und später auch gedruckt und in Bibliotheken, auf Servern oder in der eigenen Cloud aufbewahrt wird. Und deshalb ist zum anderen der Einzelne nicht mehr in der Lage und in der Pflicht, sich alles zu merken und alle Wissensgebiete auch nur ansatzweise zu überblicken. Das Ideal der sogenannten Universalgelehrsamkeit wird nach und nach abgelöst von spezialisierten wissenschaftlichen Disziplinen. Viele davon entstanden im 19. Jahrhundert.
Ihr architektonisches und wissenschaftshistorisches Erbe ist auf dem KIT-Campus noch gut sichtbar. Die Auslagerung, Vermehrung und Spezialisierung des Wissens führt zwangsläufig zu neuen Medienangeboten, Funktionen und Nutzungsinteressen. Eine traditionelle Chronik des 17. Jahrhunderts kann ebenso wie ein Roman dieser Zeit historische Ereignisse versammeln und problemlos mit einer religiösen Absicht kombinieren, etwa Gott um ein besseres kommendes Jahr zu bitten oder das Lesepublikum vor den Verführungen des Teufels zu warnen. Solche klar markierten Belehrungs- oder Erbauungsfunktionen verlieren sich freilich im Laufe der Zeit. Das Erinnern – sei es an historische, gesellschaftliche oder an persönliche, biographische Ereignisse – bleibt allerdings als Qualität von Literatur erhalten. Ob literarische Texte fiktional oder nichtfiktional sind, bloße Erfindungen darstellen oder auf tatsächliche Begebenheiten verweisen, lässt sich dabei meist nur graduell entscheiden. Auf welche historische Wirklichkeit bezieht sich Kafka? Worauf referiert Harry Potter? Worauf aktuelle Netflix-Produktionen wie Im Westen nichts Neues?
Um nur das neueste Beispiel aufzugreifen: Erich Maria Remarques Bestseller von 1929 nimmt in den Weimarer Jahren teil an einer intensiven Debatte um die Deutungshoheit über den für Deutschland verlorenen Ersten Weltkrieg. So einmütig wie die gerade aktuelle Verfilmung von der Kritik gerühmt und für diverse Oscars nominiert wird, so kontrovers ist die zeitgenössische Auseinandersetzung mit dem Roman. Während die Leserbriefe zum Vorabdruck in der Vossischen Zeitung voll des Lobes sind, die ‚Echtheit‘ des Textes hervorheben und ihn als Mahnmal einer neuen Generation gegen das Vergessen der Kriegsgräuel feiern, stößt er in der konservativen und nationalistischen Presse auf radikale Ablehnung. Die Vorwürfe richten sich gegen den allzu ‚pazifistischen Geist‘ und gegen die vermeintlichen ‚Belanglosigkeiten‘ aus einem ansonsten schicksalhaften Kriegsgeschehen, von denen Remarque zu Unrecht erzähle. Der nationalsozialistische Erfolgsautor Hans Zöberlein verunglimpft den Roman sogar als ‚Leichenschändung‘ an den gefallenen Soldaten.

Rezeption inhaltlich kaum extremer hätte geführt werden können, braucht es eine Rekonstruktion solcher Deutungs- und Vereinnahmungsversuche. Die Literaturwissenschaft hat hierbei eine doppelte Aufgabe: Sie muss zwischen dem historischen Ereignis des Krieges, seiner literarischen Verarbeitung und der publizistischen Reaktion auf diese Verarbeitung analytisch unterscheiden. Andererseits hat sie einzukalkulieren, dass der Krieg als solcher gar nicht greifbar ist. Der Krieg wird allein erfahrbar in der Rede über ihn, in der medialen Berichterstattung, in politischen Stellungnahmen oder in den Aufzeichnungen derjenigen, die an ihm teilnehmen oder ihn von außen beobachten. Und auch dabei gilt: Die Erinnerung an den Krieg ist niemals nur persönlich; sie vollzieht sich immer als ein Akt des kollektiven Gedächtnisses und in einem öffentlichen Diskurs.                    Ein solcher Diskurs besitzt jedoch nur selten eine Kontinuität, die über mehrere Generationen reicht. Stattdessen ist er von Bruchlinien durchzogen, die die Literaturwissenschaft ihrerseits abzuschätzen und auszumessen hat. Wer die Verfilmung gesehen hat, muss den Roman nicht gelesen haben und umgekehrt. Wer beides kennt, hat trotzdem eine allenfalls vage Vorstellung von dem, was Remarques Ich-Erzähler Paul Bäumer aus dem Stellungskrieg an der Front berichtet. Hier scheidet sich die kollektive Erinnerung einer späteren Generation unserer Jetztzeit von der persönlichen Erfahrung eines Zeitgenossen. Dennoch ist die permanente Neuauflage des Romans als eines ‚Klassikers‘ ebenso wie seine filmische Adaption keineswegs obsolet. Mindestens die Kriege unserer Gegenwart verschaffen die dafür nötige Legitimation.                                                 Jenseits der verhältnismäßig kurzen öffentlichen Wahrnehmung für derlei filmische Events und für ihre jährliche Auszeichnung hat das Erinnern als gemeinschaftsstiftender Vorgang eine ebenfalls literaturhistorische und literaturwissenschaftliche Konsequenz. Nicht nur erinnert die Literatur an Vergangenes, sondern die Literaturwissenschaft erinnert sich (und bestenfalls andere) an Literatur. Welche Texte noch lesenswert sind, welche dem Kanon zugerechnet und welche womöglich vergessen oder wenigstens beiseitegelegt werden können, welche Texte eines bestimmten Zeitraums überhaupt noch bekannt sind – all das hängt zumindest indirekt davon ab, wie sich die Literaturwissenschaft als Disziplin dazu verhält und wie sie ihre Gegenstände öffentlich kommuniziert. Die Klagen über die nächste unwissende Generation, die nicht mehr liest und nichts mehr kennt, sind dabei ebenso topisch wie der Abgesang auf die Literatur selbst, die sich ständig mit neuen, technisch attraktiveren und unterhaltsameren Konkurrenzangeboten konfrontiert sieht. Bisweilen fehlt die Erinnerung daran, dass all diese Beobachtungen selbst schon über eine Geschichte verfügen und dementsprechend historisch herzuleiten wären. Konstruktiver erscheint vielleicht der Gedanke, dass jede Lektüre die Chance, wenn nicht die Notwendigkeit bietet, Erinnerungen zu aktualisieren, Bewertungsschemata zu überprüfen und bekannte Deutungsmuster zu hinterfragen.

PD Dr. Christian Meierhofer
PD Dr. Christian Meierhofer vertrat bis April 2023 den Lehrstuhl für Neuere deutsche und allgemeine Literaturwissenschaft am KIT. Nach seinem Studium der Kommunikationswissenschaft, Deutschen Philologie und Englischen Philologie in Münster promovierte er 2009 an der Universität Bremen. Danach war er wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Bonn, wo er sich 2017 habilitierte. Mehrere Gastdozenturen führten ihn außerdem in die USA, die Schweiz, nach Russland, Südkorea, England und Tschechien.

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