Auf der Suche nach der Weltformel – Was war vor dem Urknall?

Kein Leben. Kein Licht. Keine Materie. Kein Raum. Kein Zeitpfeil. NICHTS.

von Sarah Alicia Fölsch

Viele von uns sind in einer durchwachten Sommernacht auf freiem Feld unter dem unendlichen Sternenhimmel bereits manches Mal dem eigenen inneren Philosophen oder der eigenen inneren Philosophin begegnet. Es sind solche Momente, in denen uns schlagartig und glasklar bewusst wird, welch ein Wimpernschlag des Universums wir eigentlich sind. Eine Erkenntnis so erhellend und gleichzeitig so schmerzlich, als würde plötzlich ein Schleier vom eigenen Verstand gezogen. Wie kann man nur gleichzeitig viel mehr und nichts mehr be-
greifen? Wo kommen wir her? Wo gehen wir hin? Ist alles Zufall? Und: Was war davor? Soweit davor, dass es die Erde noch nicht gab, unsere Sonnen nicht – das gesamte Universum nicht? Dieser physikalisch-philosophische Exkurs beschäftigt sich damit, ob und wie aus dem Nichts in einer gigantischen Explosion etwas entstehen konnte – durch den Urknall. Und mit der Frage, was vorher war. Unser Universum, von dem wir einen winzigen Ausschnitt begreifen können, wenn wir in den Nachthimmel blicken oder wenn wir mit einer Rakete zur ISS fliegen würden – mit unserem wunderschönen blauen Planeten, der Milchstraße und dem supermassereichen schwarzen Loch in der Mitte unserer Galaxie – wurde vor etwa 13,8 Milliarden Jahren geboren: Der wissenschaftlich gängigen Meinung nach aus einem winzigen Punkt mit unendlich hoher Dichte und Temperatur in einem Ereignis, dass wir Urknall nennen. Diesen Zustand, in dem Masse und Raumzeit in einem ausdehnungslosen Punkt vereint waren, bezeichnen Wissenschaftler*innen als Singularität. Am Anfang war das Universum so klein, dass es viele Millionen Mal in einen Atomkern gepasst hätte. Die Singularität wurde früher auch als „das kosmische Ei“ bezeichnet. Die explosionsartige Expansion aus diesem Punkt heraus soll nicht nur unser Universum, sondern auch Raum und Zeit selbst hervorgebracht haben. Innerhalb von einer Sekunde nach dem Urknall blähte sich das Universum in der sogenannten Inflationsphase schlagartig um einen Faktor von mindestens 10^26 auf. Materie verteilte sich im gesamten Raum und erste Teilchen bildeten sich. Bevor sich aber Atome aus den elementarsten Bausteinen des Universums bilden konnten, mussten erst hunderttausende von Jahren vergehen. Der Urknall ist bislang eine Theorie, die zwar weitgehend wissenschaftlicher Konsens aber nicht vollständig bewiesen ist. Lange Zeit gingen Wissenschaftler*innen davon aus, dass das Universum schon immer existiert habe und es dementsprechend keinen Ursprung oder Ausgangspunkt gäbe. Die Urknall-Theorie begründet sich vor allem auf die Entdeckung, dass unser Universum sich ausdehnt. Es ist unstrittig, dass andere Galaxien sich weiter von der unseren entfernen – umso schneller, je weiter sie bereits von uns entfernt sind – was rückwärts gedacht zu dem Schluss führt, dass am Anfang alles auf einen winzigen Punkt komprimiert gewesen sein muss. Ein Relikt aus der Entstehungszeit des Universums dient dabei als schlagkräftigster Beweis: die kosmische Hintergrundstrahlung. Doch selbst Einsteins Allgemeine Relativitätstheorie ist nicht in der Lage, die Vorgänge während des Urknalls zu beschreiben. Für dieses Ziel müsste es gelingen, die Theorie mit der Quantentheorie zu verschmelzen – zu einer Art Weltformel, der Grand Unified Theory. Der Weg zu diesem Ziel führt stets einen schmalen Grat zwischen herausfordernder Theorie und purer Fantasie entlang und es ist mehr als schwierig, auf dieser Reise die Balance zu halten. Ein Teil der Forschenden vertritt die Auffassung, dass nach Einsteins Relativitätstheorie der Urknall gleichfalls die Geburt der Zeit darstellte, was per se ausschließt, dass es ein
„davor“ überhaupt gegeben haben kann. Auch der Astrophysiker Stephen Hawking vertrat in einem der letzten Interviews vor seinem Tod die Auffassung, dass vor dem Urknall nichts existierte, da es so etwas wie Zeit noch nicht gab. »Die Euklidische Raum-Zeit ist eine geschlossene Oberfläche ohne Ende, wie die Oberfläche der Erde.« Der Gedanke sei vergleichbar mit der Frage, ob man weiter nach Norden gehen kann, wenn man am Nordpol angekommen ist. »Die Zeit, wie wir sie definieren, verliert ihre Bedeutung, während das Universum zusammenschrumpft«, erklärt Popular Science Hawkings Aussage. In ähnlicher Weise gibt es räumlich gesehen auch kein »dahinter«. Außerhalb des Universums existiert keine Raumdimension. Doch wie kann aus bloßem Nichts etwas so Unglaubliches wie das Universum entstehen? Eine mögliche Erklärung könnte ein Effekt der Quantenphysik liefern: Die Quantenfluktuation. Darunter versteht man das spontane Entstehen eines Teilchens und seines Pendants, eines Antiteilchens, durch zufällige Energieschwankungen im Vakuum. Aus quantenmechanischer Sicht gibt es keinen leeren Raum. Selbst ein perfektes Vakuum enthält ein »kochendes Gebräu aus virtuellen Partikeln, die erscheinen und wieder verschwinden«, wie Physiker Lawrence Krauss es ausdrückt.

Konkurrierende Theorien, wie das Universum entstanden sein könnte, erlauben hingegen die Möglichkeit, dass es zuvor bereits etwas gab – und nicht nichts: Stringtheorie und Schleifenquantengravitationstheorie werden in Fachkreisen derzeit favorisiert. Dabei wird ausgeschlossen, dass der Zustand der Singularität, also die Konzentration aller Masse und Strahlung des Universums in einem winzigen Punkt, möglich ist. Masse und Raumzeit waren diesem Ansatz zufolge zwar auf ein winziges Volumen komprimiert, allerdings nicht auf einen ausdehnungslosen Punkt, wie es die Urknall-Theorie in ihrer Reinform annimmt. Es gibt zum Beispiel die Theorie, dass es ein Vorgängeruniversum mit ähnlichen physikalischen Eigenschaften wie dem unseren gab, aus dem unser Universum dann entstand. Oder aber, dass es nur das eine Universum gibt, welches sich aber epizyklisch verhält, das heißt, sich immer wieder zusammen zieht und ausdehnt. So wie unsere Sonne eine unter ungreifbar vielen Sonnen ist und unsere Galaxie eine unter Milliarden Galaxien, so könnte einer anderen Theorie zufolge unser Universum aber auch ein winziger Teil eines höherdimensionalen Universums sein. Aus diesem Multiversum würden möglicherweise immer wieder neue Universen hervorgebracht. Der Urknall könnte in diesem Szenario der Beginn unseres Universums sein, aber nicht des höherdimensionalen Universums. Denkbar wäre außerdem, dass ein Zusammenstoß zweier Universen zum Urknall führte. All diese Theorien haben gemein, dass es ein großes Ereignis gegeben haben muss, nach welchem unser Universum sehr schnell zu enormer Größe anschwoll. Nikodem Poplawski, der von manchen als »neuer Einstein« bezeichnet wird, glaubt an eine andere Theorie. Er hält schwarze Löcher für die Tore zu anderen Universen. Ein schwarzes Loch ist ein Objekt, dessen riesige Masse auf winzigen Raum komprimiert ist. Dadurch ist die Schwerkraft in seinem Inneren so hoch, dass nichts mehr entkommen kann. Keine Materie. Kein Licht. Keine Information. Die äußerste Grenze, nach deren Überqueren es kein Zurück mehr gibt, wird als Ereignishorizont bezeichnet. Laut allgemeiner Relativitätstheorie kann nichts den Ereignishorizont von innen nach außen überschreiten. Die Gravitationskräfte sind so stark, dass alles immer mehr in Richtung Zentrum gezogen wird. Man könnte nun davon ausgehen, dass infolgedessen im Zentrum des schwarzen Lochs durch Komprimieren auf einen ausdehnungslosen Punkt Singularität entsteht. Poplawskis Theorie zufolge erzeugt jedoch der massive Drehimpuls, kurz bevor die Materie Singularität erreicht, eine Torsion, also Verkrümmung, die als Gegenkraft zur Gravitation dafür sorgt, dass nie Singularität erreicht werden kann. Fast jede Galaxie hat in ihrem Zentrum ein supermassereiches schwarzes Loch. Auch im Zentrum unserer Heimatgalaxie Milchstraße verbirgt sich ein solches: Sagittarius A*, 26.000 Lichtjahre entfernt. Bei supermassereichen schwarzen Löchern handelt es sich um die Masse mehrere Milliarden Sonnenmassen. Da Masse die Raumzeit krümmt, krümmt diese extreme Masse sie so sehr, dass die üblichen physikalischen Gesetze außer Kraft gesetzt werden. Laut Poplawski ist es nach der Einstein-Cartan-Theorie, einer Erweiterung der Relativitätstheorie, denkbar, dass es Universen in schwarzen Löchern gibt und wir sogar selbst in einem schwarzen Loch leben. Die Energie und Materie, die durch das schwarze Loch geschluckt wird, bündelt sich und explodiert irgendwann. Dies erschafft einen neuen Raum, in welchen die Materie nach dem sogenannten Big Bounce durch das schwarze Loch eintritt. Demnach wäre der Urknall der explodierende Kern eines schwarzen Lochs – ohne Singularität. Ein »davor« wird in diesem Fall klar vorausgesetzt. Durch den Ereignishorizont ist ein Beweis oder auch Gegenbeweis jedoch kaum möglich. Sind schwarze Löcher also tatsächlich Türen in andere Universen? Die Idee ist in Fachkreisen umstritten. Sie sei zwar reizvoll, aber die Forschung solle sich davor hüten, zu viel zu spekulieren. Alle vorgestellten Theorien haben bisher nur auf dem mathematischen Reißbrett Gestalt angenommen und müssen mit Daten belegt werden. Fest steht, dass es Leben, Licht, Materie, Raum und Zeit heute gibt – und nicht nichts. Bei der nächsten philosophischen Entgleisung mit Blick in die unendliche Weite des Nachthimmels eröffnen sich nach der Lektüre dieses Textes vielleicht für den einen oder die andere neue Blickwinkel, wo alles entsprungen sein könnte. Der Weg zur Grand Unified Theory, der Weltformel, wartet jedenfalls darauf, von immer neuen klugen Köpfen begangen zu werden.

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