Wie Zufall Geschichte schreibt

Die Konfrontation mit dem Unerwartetem ist so alt wie die Menschheit selbst, dennoch scheinen Zufälle historischen Ausmaßes selten. Im Laufe der Menschheitsgeschichte waren solche „Grand Scale“-Zufälle immer wieder von Bedeutung – sie haben nicht nur unsere Vergangenheit geformt, sondern werden mit Sicherheit in ähnlicher Weise unsere Zukunft beeinflussen. Wie können wir uns sinnvoll mit historischem Zufall auseinandersetzen?

von Michael Wieland

Historische Zufälle – Was sind sie?

Wenn wir von Geschichte sprechen, dann kommen uns meist vor allem solche Ereignisse in den Sinn, die eine Folge bewusster menschlicher Entscheidungen sind. Daher wirkt diese stark durch den Menschen bestimmt. Doch von Zeit zu Zeit wurde und wird der Mensch immer wieder mit dem Zufall konfrontiert. Der Zufall ist ein äußerer Einfluss auf die Geschichte der Menschheit – er entreißt dem Menschen die Entscheidungsgewalt über sein eigenes Schicksal und kann es zum Guten als auch zum Schlechten verändern. Es ist also nicht verwunderlich, dass einige bedeutsame und historische Wendepunkte in der Historie ganz und gar nicht nur auf menschlichen Entscheidungen beruhen – zuweilen greift der Zufall ein. Er verändert den Verlauf der Geschichte in kürzester Zeit auf unvorhergesehene Weise.

Dennoch bringen wir das Wort „Zufall“ nicht unbedingt direkt mit dem Wort „Historie“ in Verbindung. Unter „Weltgeschichte“ verstehen die meisten von uns wohl eher eine kausale Verkettung und Vernetzung von Ereignissen, welche alle unter menschlichem Einfluss stehen – der Zufall fällt hier aus der Reihe. Er wendet das Blatt: Der Mensch hat jetzt nicht mehr hauptsächlich Einfluss auf das Ereignis, sondern das Ereignis hat vor allem Einfluss auf den Menschen. Das mag auf den ersten Blick etwas kompliziert erscheinen, anhand eines Fallbeispiels lässt es sich allerdings anschaulich darstellen.

Das Fallbeispiel der Entdeckung Amerikas

Den bekanntesten und vielleicht sogar einflussreichsten Zufall der bisherigen Geschichte stellt die Entdeckung Amerikas durch Christoph Columbus dar. Der italienische Seefahrer, der eigentlich mit der Absicht neue Handelsrouten nach Indien zu finden, aus Europa aufbrach, stieß bei seiner Überquerung des Atlantik zufällig auf die Landmasse Amerikas. Dieses Zufallsereignis erwies sich als unheimlich folgenreich: Für die westliche Welt eröffneten sich zahlreiche neue (hauptsächlich wirtschaftliche) Möglichkeiten, während die Ureinwohner Amerikas ihrerseits mit einer „Neuen Welt“ konfrontiert wurden. Die Menschen mussten sich an die sich schnell verändernden Umstände anpassen.Die zufällige Entdeckung Amerikas nahm dadurch auf sie Einfluss.

Für viele Historiker*innen gilt die Entdeckung Amerikas durch Columbus als einer der Angelpunkte des Beginns der Neuzeit. Dieser Zufall ist vor allem darum noch so prägnant, weil wir kaum in der Lage sind, uns vorzustellen, wie sich die Welt entwickelt hätte, wäre Amerika seinerzeit nicht entdeckt worden. Zweifellos wäre die Landmasse Amerikas nicht ewig verborgen geblieben, dennoch hätte eine spätere Entdeckung Amerikas höchstwahrscheinlich zu einer anderen Welt geführt als jener, die wir heute haben. Das macht klar, dass es eigentlich gar nicht die Zufälle selbst sind, die für die Historie interessant sind, denn Zufallsereignisse sind erstaunlich kurze Momente – es geht vielmehr darum, sich mit den Konsequenzen dieser Zufälle auseinanderzusetzen.

Wie kann sich Geschichtswissenschaft mit Zufällen auseinandersetzen?

Die Beschäftigung mit den Folgen von Ereignissen ist in der Geschichtswissenschaft nun wirklich nichts außergewöhnliches – manche würden sagen, sie bildet ihren Kern. Was allerdings eine Auseinandersetzung mit den Folgen von Zufällen so spannend macht, ist die Tatsache, dass ein historisches Zufallsereignis die Karten völlig neu mischt, seine Konsequenzen können zuweilen unvorhersehbar sein. Auch hier lässt sich die Entdeckung Amerikas als geeignetes Beispiel anführen: Im Jahr 1492 hatten mutmaßlich die wenigsten Menschen damit gerechnet, dass sich die Weltkarte um ein Drittel vergrößern würde. Die Folgen des Zufalls sind unberechenbar. Damit stehen sie im Kontrast zu den Folgen menschlicher Entscheidungen und Handlungen, welche sich immer in einem bestimmten Möglichkeiten-Spielraum, den wir uns vorstellen können, eingegrenzt finden. Sie unterscheiden sich außerdem darin, dass wir ein historisches Zufallsereignis für gewöhnlich nicht kommen sehen können, es bricht ohne Vorwarnung über uns herein. All diese Umstände bedeuten für die Geschichtswissenschaft, dass eine Beschäftigung mit historischen Zufallsereignissen erst sinnvoll ist, wenn sich die Konsequenzen des Zufalls bereits abzeichnen.

Wenn der Zufall in der Weltgeschichte ein Blitz ist, dann sollten Historiker die Menschen sein, die seinem Donnern zuhören.

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