Der Zufall der Begegnung
Es gibt keine zweite Chance für einen ersten Eindruck, oder doch?
von Cosima Ariane Galm
Wer diesen Artikel gerade liest, sollte bitte kurz die Augen schließen. Ja, einfach einmal die Augen zumachen und sich eine der folgenden Situationen zurück ins Gedächtnis rufen: Du bist auf dem Weg zum ersten Kennenlernen mit den Eltern deiner neuen Freundin oder deines neuen Freundes; du sitzt im Vorzimmer einer Firma, bei der du auf deine erste Anstellung hoffst oder läufst das erste Mal über das Gelände deiner Universität, auf dem Weg deine zukünftigen Kommiliton*innen kennenzulernen.
All das sind Situationen des ersten Eindrucks. Vielleicht lächelst du nun ein wenig in dich hinein oder der kleine Hauch von Nervosität von damals keimt erneut in dir auf. Doch warum sind wir in diesen Situationen nervös, machen uns Gedanken und hoffen, gut anzukommen? Die Antwort: Der erste Eindruck, den man hinterlässt, prägt das Verhältnis zu einer Person essenziell. Von den beiden Schweizer Psychiatern Jakob Klaesi und Theodor H. Spoerri wird der erste Eindruck wunderbar als „verstehende Ausdrucksphänomologie“ beschrieben. Man sieht eine Person, ihre Mimik, Gestik, die Kleidung, das Alter, ihre Haut- und Haarfarbe, nimmt den Geruch wahr und hat einen Eindruck, ein Bild, von ihr geformt. Dies geschieht, obwohl wir es uns vielleicht nicht einmal eingestehen wollen. Wir urteilen in dem Moment über eine Person, in dem wir sie das erste Mal sehen und wahrnehmen. Doch was passiert eigentlich genau beim ersten Eindruck?
Fakt ist, dass die auffälligsten Merkmale einer Person in unserem Gedächtnis haften bleiben. Diese bringen uns dazu, eine Person direkt unterbewusst zu bewerten und das innerhalb einer Zehntelsekunde, wie zahlreiche Studien zeigen. Statistisch macht es tatsächlich kaum einen Unterschied, ob man eine Person lediglich zehn Sekunden gesehen oder ein halbstündiges Interview mit ihr geführt hat: Die langfristige Einschätzung deckt sich im Großen und Ganzen mit dem ersten Eindruck. Grund dafür ist die Amygdala im Gehirn. Kompliziertes Wort, aber kurz gesagt ist dies der Mandelkern des limbischen Systems, das gemeinsam mit dem Hippocampus die emotionalen Äußerungen des Hirns regelt. Der erste Eindruck ist demnach ein höchst emotionales Geschehen. Normalerweise gelangen Informationen nicht in einer solchen Geschwindigkeit zur Amygdala, doch da das Gehirn in kürzester Zeit versucht, alle verfügbaren Informationen zu verarbeiten, werden einige normale Verarbeitungswege umgangen und die Information gelangt direkt zum Mandelkern. Somit entsteht ein emotionales Urteil über eine Person. Aus einer evolutionären Perspektive heraus ist der erste Eindruck demnach entscheidend, um Freunde von Feinden zu unterscheiden. Die am schnellsten zu erkennenden Merkmale sind tatsächlich die Vertrauenswürdigkeit und Attraktivität einer Person – demnach durchaus keine schlechten Eigenschaften, wenn man an die Steinzeit zurückdenkt. Außerdem ist der erste Eindruck auch eine Frage des Alters. Studien besagen, dass ältere Menschen negative Eindrücke weniger stark wahrnehmen können und schneller Vertrauen aufbauen. Darüber hinaus besteht ein Unterschied zwischen Frauen und Männern, wobei weibliche Personen das nonverbale Verhalten oft besser einschätzen können, als es bei Männern der Fall ist.
Wenn allerdings ein Merkmal stark dominant ist, kann es schnell passieren, dass man unterbewusst andere Merkmale ausblendet und lediglich dieses Merkmal wahrnimmt, andere werden somit überschattet. Dadurch entsteht ein falscher erster Eindruck. Glücklicherweise gibt es dafür einen sehr anschaulichen Ausdruck, nämlich den Halo-Effekt. Dieser „Heiligenschein“ einer Person überschattet also den Rest der vermittelten Eigenschaften des ersten Eindrucks, so dass ein verzerrtes Bild entstehen kann. Wenn du nun beispielsweise eine Person zum ersten Mal siehst und sie trägt einen dunkelgrünen Mantel, der dir wirklich gut gefällt, überschattet dieser vielleicht die Tatsache, dass diese Person dir nicht sofort zugelächelt hat, was du als unhöflich empfindest. Hinzu kommt, dass wir Personen, die wir äußerlich attraktiv finden, tendenziell als intelligenter, sozialer, kompetenter und gesünder einschätzen. Der Beginn dieses Prozesses kann in diesem Fall durch ein Kleidungsstück ausgelöst werden.
Apropos Kleidung: Einige Leser*innen durften – besser gesagt mussten – in der Schule ein recht bekanntes Buch lesen. Vielleicht wurde es schon vermutet, die Rede ist von Gottfried Kellers „Kleider machen Leute“. Seit 1874 hat sich an der Moral der Novelle nicht wirklich viel verändert und trifft auch heute noch zu. Denn die Kleidung sticht eigentlich immer als erstes ins Auge. Andere Äußerlichkeiten, wie die Haarfarbe, Accessoires oder das Make-Up fallen tendenziell erst später auf. Darum machen wir uns wohl auch oft so viele Gedanken, was wir anziehen, wie wir auf unser Gegenüber wirken. Denn, man muss sich immer ins Gedächtnis rufen, dass sich unser Gegenüber auf dieselbe Art und Weise wie wir ein Urteil bildet. Wie Goethe schon sagte: „Wie du kommst gegangen, so du wirst empfangen“ – und so ist es schlussendlich. Denn das äußere Erscheinungsbild trägt sehr viel dazu bei, wie wir in einem sozialen Umfeld behandelt werden. Bei Kleidung ist der entscheidende Faktor in erster Linie die Farbe. Doch dieser Faktor ist wiederum stark von der Gesellschaft geprägt, in der wir aufwachsen. Tragen wir zu Beerdigungen Schwarz und zu Hochzeiten Weiß, so ist es bei der Trauerfarbe im asiatischen Raum genau umgekehrt und Weiß symbolisiert den Tod. Wenn es um den ersten Eindruck geht, wird vor allem bei formellen Anlässen gerne Schwarz getragen, da es zu allem passt und elegant wirkt. Außerdem sagt man häufig, dass Schwarz der Figur schmeichele, da es Farben nicht reflektiert, sondern verschluckt. Damit kann die Silhouette ein wenig zierlicher wirken. Das Bedeutungsspektrum der Farbe Rot ist ähnlich unterschiedlich. In China symbolisiert sie Freude, Glück und Ruhm, wohingegen westeuropäische Länder Ärger, Leidenschaft und Gefahr in ihr sehen. Aber was alle Länder gemeinsam haben, ist die Bedeutung der Liebe. Ist das nicht schön? Und wenn man an den ersten Eindruck denkt, dann kommt einem auch schnell der Gedanke an die gute alte “Liebe auf den ersten Blick”. Gibt es so etwas überhaupt?
Wenn man dem Konzept von einschlägigen Dating-Portalen glauben soll, dann ja. Denn das Prinzip, eine Person lediglich anhand von Bildern und einigen wenigen Informationen zu bewerten, beruht zu 100 Prozent auf dem ersten Eindruck und damit auf reiner Oberflächlichkeit. Wenn dieser einfach nicht passt, swiped man die Person weg und sieht sie (im Idealfall) nie wieder. Dabei kommt es neben der Kleidung besonders auf Gesichtsausdrücke und körperliche Attribute an. Der Effekt, der dabei entsteht, ist der sogenannte „What is beautiful is good“-Effekt. Menschen, die unter den bestehenden Schönheitsidealen als attraktiv gelten, werden auf Datingportalen als positiver eingestuft. Allerdings beruht die Attraktivität eines Menschen vor allem auf der subjektiven Wahrnehmung des Gegenübers. Darum können eigentlich alle Menschen von diesem Prinzip profitieren, da Geschmäcker bekanntlich verschieden sind und bei einem ersten Eindruck subjektiv bewertet werden.
Aber gibt es nun wirklich die Liebe auf den ersten Blick? Die Antwort ist jein. Es ist eine Definitionsfrage, denn was ist die Liebe überhaupt? Dieses Thema wäre an dieser Stelle ein Fass ohne Boden, aber aufgrund der bereits genannten Informationen kann man einige Schlüsse zur Liebe auf den ersten Blick in Bezug auf den ersten Eindruck ziehen. Denn die Liebe nimmt es mit der Wahrheit manchmal nicht so genau, wie es der erste Eindruck auch nicht tut. Natürlich hilft einem der erste Eindruck, eine Person schnell einzuschätzen und in der Regel geht er in die richtige Richtung. Allerdings, wie bei „Kleider machen Leute“ zu sehen, ist die Tatsache, dass man nie weiß, wer hinter der Fassade steckt. Denn in der Novelle dauert es bis zum Ende des Buches, bis der polnische Graf in den schönsten Kleidungsstücken als Schneiderlehrling Wenzel Strapinski enttarnt wird.
Aber zurück zur Liebe. Liebe ist ein viel zu großes Wort, um sie auf einen Blick zu empfinden. Das ist auch wissenschaftlich bewiesen. Denn sie besteht aus so vielen Komponenten, dass sie sich erst mit der Zeit entwickelt. Auf den ersten Blick kann man vollständiges Vertrauen, Freundschaft, Verbundenheit und all die anderen Merkmale, die zur Liebe dazu gehören, nicht empfinden. Man kann jemanden beim ersten Eindruck als attraktiv, vertrauenswürdig, schön und noch so vieles mehr empfinden. Ein sehr positiver erster Eindruck kann somit durchaus entstehen. Vielleicht sollte man es in diesem Fall einfach eine Verliebtheit auf den ersten Blick nennen?
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