Der Schmetterlingseffekt – Wie die kleinen Dinge über unser Leben entscheiden

von Julia Schwiedergoll

Viele haben schon von ihm gehört, wenige wissen, was tatsächlich gemeint ist: »Der Schmetterlingseffekt«. In Büchern, Filmen und Serien wird er erwähnt. Aber was genau steckt eigentlich hinter diesem Begriff? Kurz zusammengefasst symbolisiert er folgendes Konzept: Kleine Ursachen rufen große Wirkungen hervor – oder haben zumindest das Potenzial dazu.
Vom Schmetterlingseffekt war erstmals die Rede auf einer Tagung im Jahre 1972 die Rede, als Titel eines Vortrags des Meteorologen Edward Lorenz. »Schon der Flügelschlag eines Schmetterlings in Brasilien kann in Texas einen Orkan auslösen.« Mit Hilfe dieses Bildes wollte der Mathematiker und Meteorologe die Sensitivität nichtlinearer Systeme, sein damaliges Forschungsgebiet, verdeutlichen. Minimale Störungen seien in der Lage, in sensiblen Systemen massive Folgen hervorzurufen, die den »regulären« Verlauf der Dinge grundlegend verändern können.

Der Schmetterlingseffekt und das zugehörige übergeordnete Thema der Chaostheorie wurden nach Lorenz‘ Vortrag beinahe über Nacht berühmt und finden bis heute in verschiedenen Formaten Erwähnung. Beispielsweise beschreibt Heinrich von Kleist Lorenz‘ Idee in einer Erzählung über die Entwicklung der französischen Revolution in eigenen Worten durch: »Vielleicht, dass es auf diese Art zuletzt das Zucken einer Oberlippe war, oder ein zweideutiges Spiel an der Manschette, was in Frankreich den Umsturz der Ordnung der Dinge bewirkte?«. Kleinste Ereignisse können letztendlich die mit der größten Wirkung sein.

WAS DER SCHMETTERLINGSEFFEKT NICHT IST
In der heutigen Popkultur wird der Schmetterlingseffekt häufig falsch verstanden, oder zumindest falsch verwendet. Oft wird angenommen, dass es sich bei auslösenden, kleinen Ereignissen mit großen Folgen um »Hebelwirkungen« handelt. Es wird angedeutet, dass erwünschte Endergebnisse durch bestimmtes Handeln herbeigeführt werden können. Ein Schmetterlingseffekt sei also durch den Menschen nicht nur manipulierbar, sondern könne sogar durch Menschenhand kreiert werden. In der Realität sieht das jedoch ganz anders aus. Kleine Ereignisse können einen riesigen Effekt haben oder komplett irrelevant sein. Welches Ereignis und welcher Ausgang wirklich eintreten werden, kann von niemandem vorausgesagt werden. Und gesteuert werden, kann es erst recht nicht.

Aber wie kam es überhaupt zur Entwicklung dieser Theorie? Tatsächlich begann die Entdeckung solcher »Schmetterlings-Phänomene« mit der klassischen Wetterforschung. Edward Lorenz empfand die in den 1950er Jahren bekannten Methoden der Wettervorhersage, die alle auf linearen Modellen basierten, als nicht aussagekräftig genug. Im Laufe seiner Forschungsarbeit erschuf er die sogenannte Chaostheorie durch die Verbindung seiner beiden Fachgebiete: Mathematik und Meteorologie. Sie beschreibt die Erforschung des Unerwarteten und Unberechenbaren. In einem Experiment zur Wettervorhersage kam er zu dem Schluss, dass dieses sich unerwartet schnell und unter kleinsten Veränderungen der Ausgangssituation drastisch verändern kann. Auch langfristige Wirkungen könnten durch minimalsten Einfluss herbeigeführt werden. 1963 verschriftlichte er seine Ideen in einer wissenschaftlichen Arbeit. Vereinfacht stellte er folgende These auf: Modelle der Wettervoraussage sind unzuverlässig, weil es unmöglich ist, die genauen Ausgangsbedingungen zu kennen und weil kleinste Veränderungen das Endergebnis voll und ganz verändern können. Um das Konzept auch für nicht-wissenschaftliche Zuhörer verständlich zu machen, begann Lorenz die Schmetterlings-Analogie zu verwenden. Den Begriff »Schmetterlingseffekt« verwendete er aber tatsächlich nicht selbst. Philip Merilees, Organisator der oben erwähnten Tagung, gab Lorenz’ Vortrag seinen Titel. Plötzlich war der Schmetterlingseffekt in aller Munde.

In Interviews erklärte Lorenz, dass der Schmetterling durch sein Flügelschlagen zwar keinen Orkan auslösen kann, aber dennoch winzige Veränderungen im Atmosphärendruck bewirkt. Diese Veränderungen addieren sich im Verlauf seines Wettervorhersagemodells und fließen so in die Entstehung eines Orkans mit ein. Er betont jedoch, dass der Schmetterling kein konkreter Auslöser ist, sondern lediglich ein Symbol. Niemand kann wissen, welche spezifische Veränderung letzten Endes verantwortlich für das Kippen eines Systems sind. Um das Konzept etwas greifbarer zu machen, wird dieses anhand von zwei Beispielen erläutert.

DIE SCHLACHT BEI WATERLOO
Die Schlacht bei Waterloo am 18. Juni 1815 war die letzte Schlacht Napoleon Bonapartes. Die Niederlage der von Napoleon geführten Franzosen gegen die alliierten Truppen unter dem englischen General Wellington und dem preußischen Feldmarschall Blücher beendete Napoleons Herrschaft endgültig. Seine Abdankung am 22. Juni 1815 besiegelte das Ende des Französischen Kaiserreichs. Nun kann natürlich niemand rekonstruieren, welche Faktoren letztendlich zu Sieg und Niederlage geführt haben. Für die Ereignisse jenes Tages existieren jedoch bestimmte Vermutungen, die gleichzeitig ein anschauliches Beispiel für den Schmetterlingseffekt darstellen.

Napoleon litt lange Zeit unter Hämorrhoiden. Im Vorfeld der Schlacht bei Waterloo bereiteten sie ihm solche Schmerzen, dass er nicht mehr fähig war, auf seinem Pferd zu sitzen und seine Truppen zu überwachen. Normalerweise nutzte er Blutegel, um die Schmerzen zu lindern. Berichten zufolge standen Napoleon am Tag des Gefechts keine Egel zur Verfügung, weshalb sein Arzt ihm stattdessen das Medikament Laudanum verabreichte. Die Opiumtinktur löste bei Napoleon solch große Benommenheit aus, dass die Schlacht um zwei Stunden verschoben werden musste. So griffen die französischen Truppen nicht wie geplant um neun Uhr morgens an, sondern erst am frühen Mittag. Diese zusätzlichen Stunden gaben den preußischen Truppen genug Zeit, um sich am Ort der Schlacht zu positionieren und das britische Heer zu unterstützen. Ungefähr ab der Hälfte des Kampfes mussten die Franzosen dementsprechend gegen eine verdoppelte Defensivkraft antreten, was letztendlich zur Niederlage Napoleons führte.

Zwar handelt es sich hierbei um bloße Vermutungen, sollten diese jedoch stimmen, kann der Schmetterlingseffekt hier Anwendung finden. Wären Napoleons Schmerzen nicht an gerade diesem Tag so schlimm gewesen und hätte es Egel zur medizinischen Behandlung gegeben, dann wäre die Schlacht bei Waterloo vielleicht ganz anders ausgegangen. Ein anderer Verlauf hätte vermutlich uneinschätzbaren Folgen auf den weiteren Verlauf der Geschichte gehabt.

DER FALL DES ELIÁN GONZÁLEZ
Im November 1999 trieb der damals fünfjährige Elián González Brotons auf einem Reifenschlauch nach Florida und wurde dort von einem Fischer gerettet. Sein Plan war es, aus Kuba in die USA zu flüchten. Bei diesem Versuch ertranken seine Mutter und zehn weitere Flüchtlinge infolge eines Schiffbruchs.

Elián hatte Angehörige in Miami, die das Sorgerecht für ihn übernahmen. Zur Zeit des Vorfalls war es Kubanern, die das Territorium der USA erreichten, grundsätzlich erlaubt, im Land zu bleiben. Das Problem war, dass Eliáns Mutter die Fluchtpläne nicht mit seinem leiblichen Vater abgesprochen hatte. Trotz kritischer politischer Lage in Kuba forderte Eliáns Vater dessen Rückkehr in seine Heimat. Das Resultat war ein langanhaltender, in den Medien viel diskutierter Sorgerechtsstreit, der bis vor den amerikanischen Kongress und das US-Bundesgericht gelangte. Vier Monate lang gab es fast tägliche Proteste auf beiden Seiten. Kubaner forderten Eliáns Rückkehr, während Amerikaner und kubanische Zuwanderer für sein Recht zu bleiben demonstrierten. Als der Supreme Court der USA sich weigerte Eliáns Verwandte in Miami anzuhören, weigerten diese sich, Elián an die Behörden zu übergeben. Letztendlich stürmten Spezialeinheiten der US-amerikanischen Grenzschutzpolizei im April 2000 das Haus der Familie in Miami, um Elián zu ergreifen. In Washington D.C. wurde der Junge schließlich seinem Vater übergeben und musste im Juni 2000 nach Kuba zurückkehren. Aber was hat diese Geschichte mit dem Schmetterlingseffekt zu tun?

Zur Zeit des Rechtsstreits um Elián González war Bill Clinton Präsident der USA, Al Gore sein Vizepräsident. Clinton erhielt viel negative Kritik für die unberechtigte Stürmung des Hauses einer unschuldigen Familie. Al Gore befand sich währenddessen in Mitten des Wahlkampfs für den Titel des nächsten Präsidenten. Zu seinem Pech befand sich eine der größten kubanischen Gemeinschaften Amerikas in Florida. Infolge des Aufruhrs um die Stürmung des Familienheims und die Rückführung Eliáns nach Kuba, verloren Clinton und Al Gore einen großen Teil ihrer Unterstützer in Florida.

Die folgende Präsidentschaftswahl ging extrem knapp aus. George W. Bush gewann mit einem Vorsprung von nicht einmal 0,5 Prozent. Seither gab es stets Spekulationen, ob Al Gore nicht doch gewonnen hätte, wäre Eliáns Schiff nicht gesunken.

Durch diese zwei Beispiele wird deutlich, wie fragil unsere Welt ist und wie ausschlaggebend jedes noch so kleine Geschehnis sein kann. Wir Menschen unterhalten gerne die Illusion, dass wir die Zukunft zumindest zu einem gewissen Grad voraussehen können. Der Schmetterlingseffekt bietet einen Vorschlag zu einem gegensätzlichen Modell. Die Systeme, die uns umgeben, sind unberechenbar und anfällig für plötzliche Veränderungen. Wir können Modelle erstellen, wir können Ausgangssituationen manipulieren. Aber jede mögliche Komponente mit einzuberechnen und jedem möglichen Ausgang eine Wahrscheinlichkeit zuzuordnen – das ist so unmöglich, wie die Vergangenheit zu ändern.

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