Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile
Ein Interview mit Michael Mäs
Der Grundgedanke hinter den weisen Worten „Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile“ geht bereits auf Aristoteles zurück. Mehr als 2000 Jahre nach ihm verlieh jemand diesem Zitat neue Bedeutung, der die Wissenschaft der Soziologie revolutionierte: Émile Durkheim. Er illustrierte seine Gedanken mit dem Bild einer lebenden Zelle, die zusammengesetzt ist aus vielen einzelnen unbelebten Zellorganellen. In ihrer Gesamtheit erschafft die Kombination der einzelnen Elemente jedoch etwas völlig Neues, ungleich Größeres. Diese Idee bezeichnet man als „Emergenz“. Dass ebensolche Phänomene auch in einer Gesellschaft entstehen können, bei denen Kollektive etwas anderes sind oder tun, als die Summe der Individuen vermuten lässt, beschäftigte nicht nur Émile Durkheim seinerzeit, sondern auch die heutigen klugen Köpfe der Soziologie. Professor Michael Mäs vom Karlsruher Institut für Technologie ist einer von ihnen. Er forscht im Bereich Computational Social Science an komplexen Themen wie Meinungspolarisierung, Fake News oder Filter Bubbles. Uns hat Michael Mäs erzählt, warum Soziologie einen besonderen Blick auf die Welt bietet, was Computersimulationen damit zu tun haben und wieso der Zufall eine entscheidende Einflussgröße darstellt.
Das Interview führte Sarah Alicia Fölsch
Herr Professor Mäs, unterhalten wir uns erst einmal über die Soziologie im Allgemeinen: Was ist das eigentlich und was fasziniert Sie so sehr an dieser Wissenschaft?
Die Soziologie beschäftigt sich mit menschlichen Kollektiven wie Gruppen, Organisationen und Gesellschaften. In Kollektiven können Phänomene entstehen, die man nicht ohne Weiteres auf die Motive der Individuen, aus denen das Kollektiv besteht, zurückführen kann. Ein bekanntes Beispiel ist, dass auch Städte, in denen die Menschen sehr tolerant sind, in “schwarze” und “weiße” Stadtteile zerfallen können. Ein zweites Beispiel ist, dass es zu Meinungspolarisierung kommen kann, obwohl sich niemand von anderen unterscheiden möchte. Solche Phänomene sind faszinierend, weil sie kontraintuitiv sind. Wie kann das sein, dass Menschen das eine wollen, aber in der Gruppe entsteht etwas ganz anderes?
Der Grund, warum soziologische Phänomene entstehen, sind die sozialen Beziehungen zwischen Menschen. Wir handeln nicht in Isolation. Wenn eine Person etwas tut, kann das einen Effekt auf eine andere Person haben, was dann wieder weitere Personen beeinflussen kann und so weiter. Solche Kettenreaktionen können unerwartete Dynamiken auslösen.
»Die Soziologie beschäftigt sich mit kontraintuitiven Erklärungen«
Warum ist es Ihrer Meinung nach wichtig, für die Lösung gesellschaftlicher Probleme auch die soziologische Perspektive zu kennen?
Wenn man die Ursachen immer in den Motiven der Menschen sucht, dann wird man mitunter falsche Rückschlüsse darüber ziehen, wie man Probleme beheben kann. Schauen wir uns beispielsweise die Diskriminierung von Frauen an deutschen Universitäten an. Meine persönliche Wahrnehmung ist, dass wirklich nur sehr wenige Männer an den Unis eine Ungleichbehandlung möchten. Trotzdem ist die Diskriminierung der Frauen enorm. Über die Motive der Individuen allein lässt sich das Problem anscheinend nicht beheben.
Würden Sie sagen, dass Soziologie den Blick auf die Welt verändert?
Allein die Einsicht, dass in Kollektiven unerwartete Dinge passieren können, ist wichtig. Vielleicht sind Personen, die nicht an die Wirksamkeit von Impfungen glauben, gar nicht ignorant und dumm? Möglicherweise haben sie in ihrem sozialen Umfeld Informationen bekommen, die ihre Skepsis durchaus rational machen. Vielleicht haben die Personen durch Ereignisse in ihrem Leben kein Vertrauen mehr in Eliten, wie Politiker*innen und Forschende und sind daher sehr skeptisch.
Die meisten Menschen stellen sich unter Soziologie etwa die Erforschung des sozialen Handelns vor. Wenige verknüpfen das Feld dagegen mit Mathematik und Informatik. Wieviel dieser Disziplinen stecken dennoch in der Soziologie?
Die Soziologie beschäftigt sich mit kontraintuitiven Erklärungen. Um Dinge, die nicht intuitiv sind, doch verständlich zu machen, braucht man eine Methode, wie die Mathematik, die Logik oder Computersimulation. Wenn ich zum Beispiel zeigen will, dass auch zufälliges Verhalten von Menschen einen systematischen Einfluss auf Kollektive hat, dann formuliere ich eine Reihe von Annahmen zum systematischen und zum zufälligen Verhalten von Menschen und leite dann mit formalen Methoden logisch ab, dass bestimmte systematische Effekte entstehen.
Kommen wir damit zu unserem Titelthema: Wie würden Sie im soziologischen Sinn Zufall definieren? Oder anders gefragt: Was bedeutet Zufall für die Gesellschaft und die Soziologie?
Ein großer Teil des Verhaltens von Menschen ist systematisch. Es gibt klare und gut erklärbare Verhaltensmuster. Ein bestimmter Teil unseres Verhaltens ist aber auch unsystematisch und scheinbar zufällig. Forschende mit einer rein psychologischen Perspektive interessieren sich wenig für diesen Teil des Verhaltens, denn er ist eben einfach Zufall. Da gibt es nichts zu erklären. In der Soziologie ist das anders, denn auch seltene und zufällige Ereignisse können eine Kettenreaktion auslösen, die dann systematische Effekte hat. Das sehen wir in fast allen wichtigen Modellen der Soziologie. Wenn man Zufall einbaut, kommt oft etwas anderes heraus als ohne Zufall.
Können Sie ein Beispiel dafür geben, inwiefern Zufall in gesellschaftlichen Prozessen eine Rolle spielt?
Intuitiv würde man erwarten, dass zufälliges Handeln von Individuen keine kollektiven Effekte hat, denn unterschiedliche Zufälle sollten sich ausgleichen. Wenn sich aber die Individuen gegenseitig beeinflussen, kann ein zufälliges Verhalten einer Person zu einer Reaktion einer anderen Person führen und so weiter. Ein ganz dummes Beispiel ist mir einmal selbst passiert: Nach einem Seminar ging ich in Gedanken versunken zur Toilette. Diese befand sich am Ende eines Korridors. Vor mir lief ein Student, dem ich einfach folgte. Hinter mir lief ein weiterer Student. Wir öffnen die Tür, gehen hinein und stellen plötzlich fest, dass wir alle drei auf der Damentoilette gelandet sind. Der Student vor mir hatte nicht genau geschaut. Ich hatte mich auf ihn verlassen und der Student hinter mir hatte mir vertraut.
Obwohl es immer zufälliges Verhalten gibt, wird dieses nicht immer Effekte auf Kollektive haben. Wichtig ist aber, dass man mit formalen Analysen untersuchen kann, ob und wann zufälliges Verhalten Effekte auf Kollektive hat. Beispielsweise kann es im Straßenverkehr immer wieder passieren, dass ein*e Autofahrer*in die Geschwindigkeit plötzlich zufällig reduziert. Ist die Verkehrsdichte gering, hat das keinen Effekt. Fahren aber viele Autos gerade in kurzen Abständen, kann eine Kettenreaktion entstehen, wobei jedes weitere Auto etwas mehr abbremsen muss, bis ein Stau entsteht.
Ein zentraler Aspekt der Soziologie ist das (geregelte) Zusammenleben von Menschen in Gemeinschaften. Welche Rolle spielt denn Zufall für die Herstellung von Ordnung?
Das ist auch ein weites Feld. Hier nur ein Effekt: Mit Ordnung ist oft gemeint, dass Menschen sich an geteilte Verhaltensnormen halten. Zufälliges Abweichen von diesen Regeln scheint einerseits ein Problem zu sein, denn es gefährdet die Ordnung. Auf der anderen Seite führen Abweichungen von Normen oft auch zu einer Art Bestrafung der Person, die nicht kooperiert. Damit werden alle an die Existenz der Regel erinnert und es entsteht sogar ein positiver Effekt auf Ordnung.
Für wie rational halten Sie Menschen? Ist unser Verhalten nicht eher unvorhersehbar?
Das sind unterschiedliche Fragen. Verhalten wird dann als rational bezeichnet, wenn es konsistent, also in sich widerspruchsfrei ist. Das ist menschliches Verhalten oft nicht. Das heißt aber noch lange nicht, dass es unvorhersehbar ist. Schauen Sie sich einmal Ihr eigenes Verhalten der letzten zwei Wochen an. Gab es da keine Muster darin, wann Sie aufgestanden sind und wann Sie gegessen haben? Hören Sie jeden Tag andere, zufällige Musik? Es ist sicher sehr schwierig, menschliches Verhalten vorherzusagen. Es ist sicher komplex, aber es gibt auch klare Muster.
»Es ist sicher sehr schwierig, menschliches Verhalten vorherzusagen. Es ist sicher komplex, aber es gibt auch klare Muster.«
Sie haben selbst bereits empirische Forschung zum Thema Zufall gemacht. Worum ging es dabei konkret?
Wir hatten zwei Fragen: Erstens wollten wir wissen, wie man Zufall modellieren sollte. Sind zufällige Abweichungen von unseren üblichen Verhaltensmustern immer gleich wahrscheinlich oder sind sie zum Beispiel wahrscheinlicher, wenn die Abweichung vom Muster nicht kostspielig ist? Die zweite Frage war, ob wir mit unseren Theorien tatsächlich in der Lage sind, vorherzusagen, wann Zufall eine Rolle spielt und wann zufälliges Verhalten keinen Effekt auf Kollektive hat.
Wie kann man sich das passende empirische Set-Up für diese soziologische Fragestellung vorstellen?
In diesem konkreten Fall habe ich zusammen mit meinem Kollegen Dirk Helbing von der ETH Zürich ein Laborexperiment durchgeführt. Dabei mussten sich die Teilnehmenden immer wieder zwischen zwei vorgegebenen Optionen entscheiden. Die eine Hälfte der Teilnehmenden bekam jede Runde einen kleinen finanziellen Bonus, wenn sie die eine Option wählte, die andere Hälfte bekam einen Bonus für die andere Option. Zusätzlich bekam jede*r aber auch eine finanzielle Belohnung, wenn die gleiche Option gewählt wurde, die ein bestimmter Teil der anderen Teilnehmenden ebenfalls gewählt hatte. Es lohnte sich also, das Verhalten an andere anzupassen. Die Frage war, wann Gruppen es schaffen würden, ihr Verhalten auf eine Option zu koordinieren, obwohl sie für unterschiedliche Optionen belohnt wurden.
Welche Ergebnisse brachten diese Experimente zum Thema Zufall hervor?
Unsere theoretischen Modelle sagten vorher, dass zufällige Handlungen es in diesem Experiment wahrscheinlicher machen sollten, dass Gruppen es schaffen, sich auf eine Option zu koordinieren. Genau das haben wir dann auch gefunden. Unsere Theorien dazu, wie sich einzelne Menschen im Experiment verhalten, haben sich sehr gut bestätigt. Diese Theorien konnten aber nur dann vorhersagen, ob sich die Gruppe als Ganzes auf eine Option koordiniert, wenn wir Zufall – in Form von zufälligen Abweichungen von der Theorie – eingebaut haben. Das bedeutet, dass diese Abweichungen eine wichtige Rolle spielen. Zusätzlich zeigte sich, dass Menschen dann eher von ihren Verhaltensmustern abweichen, wenn das nicht kostspielig ist. Wenn es teuer wird abzuweichen, dann strengen wir uns mehr an und geben uns Mühe, keine zufälligen Fehler zu machen. Wir haben auch gefunden, dass Abweichungen von Verhaltensmustern wahrscheinlicher werden, wenn sich gerade etwas im Umfeld der Person geändert hat. Das kann regelrechte Abweichungskaskaden auslösen. Diese Ergebnisse werden nun verwendet um Zufall in Entscheidungen besser in Verhaltensmodelle einzubauen.
Ist es denn einfach, Zufall zu simulieren?
Das ist gar nicht so schwierig, denn Computer können Zufallszahlen ausgeben. Diese sind zwar nicht zu hundert Prozent zufällig, aber für uns reicht das meist vollkommen aus.
Wie wahrscheinlich ist es Ihrer Einschätzung nach, dass computerbasierte Hypothesen sich tatsächlich auf die Wirklichkeit übertragen lassen?
Diese Frage bildet nicht unsere tatsächliche Vorgehensweise ab. Wir verwenden dann Computer und andere formale Methoden, wenn uns unsere Intuition nicht ausreicht. Menschen sind sehr schlecht darin, komplexe Zusammenhänge genau zu durchdenken. Computer helfen uns dabei. Wenn ich also die Wahl habe zwischen einer Hypothese, die nur durch Nachdenken entstanden ist und einer Hypothese, die aus einer formalen Analyse stammt, dann würde ich immer die formal abgeleitete Hypothese auf die Wirklichkeit übertragen – wenn sonst alles gleich ist. Ob die Hypothese dann stimmt, ist eine andere Frage, aber sie ist immer vertrauenswürdiger als eine Hypothese, die aus unserer – leider sehr unzuverlässigen – Intuition entsteht.
PROF. DR. MICHAEL MAES
ist Soziologe aus Überzeugung. Seit seiner Berufung ans Karlsruher Institut für Technologie 2020 hat er einen Lehrstuhl am Institut für Technikzukünfte (ITZ) inne. Neben Forschung und Lehre ist er wissenschaftlicher Leiter des Methodenlabors im House of Competence des KIT. Nach seinem Studium der Soziologie und Volkswirtschaftslehre in Leipzig führte ihn sein Werdegang über die Universität Groningen, wo er 2010 seine Promotion abschloss, an die ETH Zürich. Als Assistenz-Professor machte er vor seiner Tätigkeit am KIT erneut Station an der Universität Groningen in den Niederlanden.
Herausgeber
fuks e.V. – Geschäftsbereich Karlsruher Transfer
Waldhornstraße 27, 76131 Karlsruhe transfer@fuks.org
Urheberrecht:
Alle Rechte vorbehalten. Die Beiträge sind urheberrechtlich geschützt. Vervielfältigungen jeglicher Art sind nur mit Genehmigung der Redaktion und der Autoren statthaft. Namentlich gekennzeichnete Artikel geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wider. Der Karlsruher Transfer erscheint einmal pro Semester und kann von Interessenten kostenlos bezogen werden.