Dunkle Materie

Der rätselhafte Stoff, der unser Universum prägt

von Dr. Klaus Eitel

Seit Urzeiten versuchen die Menschen, ihre Umwelt zu verstehen, also Erklärungen zu finden, warum die Welt gerade so aussieht, wie wir sie vorfinden, ob sie schon immer so ausgesehen hat und welche Gründe wohl dahinterstecken, dass wir eine so vielschichtige und komplexe Welt vorfinden. Dieses „Weltbild“ hat sich in der Menschheitsgeschichte dramatisch verändert: Wie die Menschen zu Zeiten der Steinringe von Stonehenge ihre Welt gesehen haben, können wir nur erahnen. Für mehr als 1000 Jahre war dann das ptolemäische Weltbild vorherrschend, in dem die Erde im Mittelpunkt des Universums, bestehend aus Sonne, Mond, den anderen Planeten und den Fixsternen, stand. Mit immer weiter entwickelten Instrumenten von Galileis Fernglas bis zu den heutigen Radioteleskopen, Röntgensatelliten und antarktischen Neutrino-Teleskopen, um nur einige zu nennen, hat sich unser Weltbild geradezu revolutioniert: Astronomie, Kosmologie und Teilchenphysik fügen alle unsere Beobachtungen in ein konsistentes physikalisches Modell zusammen – ein sich nach dem Urknall ausdehnendes Universum aus Galaxien und Galaxienhaufen, die von Leerräumen umgeben sind. Galaxien bestehen selbst aus Milliarden von Sternen, die wiederum aus winzigen Elementarteilchen aufgebaut sind, die wir im Standardmodell der Teilchenphysik klassifizieren und beschreiben können und deren fundamentale Wechselwirkungen seit Mitte des letzten Jahrhunderts entschlüsselt sind (die vier fundamentalen Wechselwirkungen im Universum*). Spektakuläre Beobachtungen in jüngster Zeit haben dieses Bild weiter gefestigt und verfeinert (und wurden nebenbei auch mit Physik-Nobelpreisen der Jahre 2006, 2013 und 2017 belohnt): die genaue Vermessung der kosmischen Hintergrundstrahlung als Überbleibsel des Urknalls, als das Universum nur etwa ein Tausendstel so groß war wie heute; die Entdeckung des Higgs-Bosons am CERN-Teilchenbeschleuniger als noch fehlendem Baustein im Standard-Teilchenmodell; der erste Nachweis von Gravitationswellen beim Verschmelzen zweier schwarzer Löcher als faszinierende Bestätigung der Einsteinschen Allgemeinen Relativitätstheorie, die auch die Evolution des Universums nach dem Urknall beschreibt.

Bei all diesen Erfolgen, unsere Messungen und Beobachtungen des Universums widerspruchsfrei mit einer physikalischen Theorie zu beschreiben, seine Bestandteile, die zugrunde liegenden Wechselwirkungen zu verstehen und die daraus folgenden Entwicklungen vorherzusagen, müssen wir aber auch eingestehen, dass einige, durchaus zentrale Fragen noch ungeklärt sind. Warum besteht das Universum fast vollständig aus Materie und nur zu einem winzigen Teil aus Antimaterie? Warum scheint sich das Universum in letzter Zeit immer schneller auszudehnen? Was ist der „Klebstoff“, der Galaxien im frühen Universum formte und der sie heute noch zusammenhält?

Die letzte dieser Fragen führt uns direkt zur dunklen Materie. Schon in den 1930er Jahren machte der Astronom Fritz Zwicky die Beobachtung, dass sich Galaxien in Galaxienhaufen viel schneller bewegen, als sich durch ihre Massenanziehung erklären lässt. Dieses Phänomen wurde später von Vera Rubin und anderen Astronomen auch in Spiralgalaxien wie unserer Milchstraße bestätigt: Insbesondere die äußeren Sterne rotieren so schnell um das jeweilige galaktische Zentrum, dass die Gravitation des Zentrums und der anderen Sterne die Fliehkräfte nicht kompensieren kann. Diese Sterne sollten demnach die Galaxien verlassen – letztendlich gäbe es also keine stabilen Galaxien, wie wir sie beobachten. Fritz Zwicky „löste“ das Problem, indem er einfach eine unsichtbare „dunkle Materie“ postulierte, die die fehlende Gravitationskraft aufbringt (Titelbild). Im Laufe der nächsten Jahrzehnte gab es immer mehr Beobachtungen, die Hinweise auf diese zusätzliche Materie lieferten, die sich bereits im frühen Universum befunden haben musste und bis heute unser Universum entscheidend strukturiert. Diese „dunkle“ Materie, die wir heute besser „unsichtbare“ Materie nennen würden, muss dabei Eigenschaften aufweisen, die sie zu einer wahrhaft „ unbekannten“ Materie machen: Sie darf keine elektrische Ladung besitzen, darf sich nicht über die Kernkraft mit Atomkernen austauschen und muss noch schwächer mit anderen Elementarteilchen wechselwirken als die superleichten, fast geisterhaften Neutrinos*. Kein uns bekanntes Elementarteilchen erfüllt diese Eigenschaften! Und dabei ist der Anteil der dunklen Materie im Universum sogar fast fünfmal so groß wie die gesamte uns bekannte Materie, aus der Planeten, Sterne, Galaxien und Gaswolken bestehen. Wie können wir die Natur dieser dunklen Materie also aufklären? Wie lässt sich auf der Erde ein Experiment durchführen, um Teilchen der dunklen Materie nachzuweisen? Welche Instrumente eignen sich am besten? Wie können wir sicherstellen, dass uns kein Messfehler unterlaufen ist und wir ein uns bekanntes Teilchen und seine Reaktion fälschlicherweise als dunkle Materie interpretieren? Dies sind die Fragen und Herausforderungen, denen sich Physiker und Astronomen mit vielen verschiedenen Ansätzen und einer großen Zahl von Experimenten weltweit stellen.

The Aquarius Project: the subhaloes of galactic haloes, Volker Springel et al., Monthly Notices of the Royal Astronomical Society, 391, 1685 (2008)

Abbildung 1: Simulation einer Galaxie der Größe unserer Milchstraße. In diesem ca. 3 Millionen Lichtjahre großen Bildausschnitt ist der diffuse galaktische Halo aus dunkler Materie dargestellt. Die Helligkeit entspricht dabei der Dichte dunkler Materie. Erkennbar sind einzelne „Klumpen“ besonders dichter dunkler Materie. Im inneren Bereich, der eine Ausdehnung von ca. 100 000 Lichtjahren aufweist, befinden sich die sichtbaren Sterne der Galaxie (hier nicht dargestellt).

Ich möchte an dieser Stelle nur auf eine Methode der Suche nach dunkler Materie näher eingehen, die sogenannte „direkte Suche“, die in den letzten Jahren enorme Fortschritte erzielt hat: Zunächst gehen wir davon aus, dass sich dunkle Materie auch in unserer Milchstraße befindet (Abbildung 1). Da sich unsere Erde um die Sonne und die Sonne wiederum auf einer Umlaufbahn um das galaktische Zentrum bewegt, sollten wir uns also ständig durch diese dunkle Materie hindurchbewegen, d. h. alle irdischen Dinge werden von einem steten Fluss von Teilchen dunkler Materie durchströmt. Auch wenn in den allermeisten Fällen aufgrund obiger Eigenschaften der dunklen Materie bei diesem Durchströmen gar nichts passiert, so könnte dennoch in sehr seltenen Fällen einmal ein solches Teilchen an einen Atomkern stoßen oder auch im Material absorbiert werden. Ein solch seltenes Ereignis gilt es aufzuspüren. Bei einem Stoß selbst eines schweren massiven Teilchens der dunklen Materie (eines sogenannten WIMPs für „weakly interacting massive particle“), erhält ein Atomkern nur sehr wenig Energie. Viele uns bekannte Prozesse wie z. B. natürliche Radioaktivität führen zu deutlich größeren Signalen. Detektoren müssen also in der Lage sein, extrem seltene und kleine Signale nachzuweisen, ohne von Störsignalen überdeckt zu werden.

Unsere Wahl fiel auf mehrere Tonnen hochreines, bei -100 Grad Celsius verflüssigtes Xenon-Gas (Xe) in einem Edelstahltank, der sich im Gran Sasso Bergmassiv in den italienischen Abruzzen 1400 Meter unter der Erdoberfläche befindet und mit 500 hochempfindlichen Lichtsensoren bestückt ist (Abbildung 2). Trifft ein WIMP einen Xe-Atomkern, so werden die Xe-Atome durch den gestoßenen Atomkern angeregt und emittieren einen Lichtblitz. Die Sensoren (PMTs für Photomultiplier) an der Ober- und Unterseite des Tanks registrieren ein erstes Signal. Gleichzeitig werden durch den sich bewegenden Atomkern auch Elektronen in der Flüssigkeit freigesetzt. Durch ein elektrisches Feld, das durch Elektroden in der Flüssigkeit anliegt, werden die Elektronen an die Oberfläche geleitet, wo sie in einer dünnen Xe-Gas-Atmosphäre einen zweiten Lichtblitz erzeugen. Die Kombination der beiden Lichtblitze in ihrer Stärke und ihrem zeitlichen Abstand ist dabei charakteristisch für einen gestoßenen Atomkern und kann sogar Rückschlüsse auf die Masse des WIMPs geben. Um Störsignale durch Radioaktivität und durch kosmische Strahlung an der Erdoberfläche bestmöglich abzuschirmen, befindet sich der Detektor tief unter Tage und wird zusätzlich durch einen großen Wassertank abgeschirmt. Das XENONnT-Experiment*, d. h. der Detektor mit seiner Kühl- und Xenon-Reinigungs-Infrastruktur, dem äußeren Wassertank und der gesamten Auslese-Elektronik wird momentan aufgebaut (Abbildung 3) und soll spätestens 2021 seinen Betrieb aufnehmen. XENONnT wird von einer internationalen Kollaboration von mehr als 160 Forschenden aus elf Ländern, darunter Gruppen der Universitäten Freiburg, Mainz, Münster, des Max-Planck-Instituts für Kernphysik (MPIK) in Heidelberg und des Karlsruher Instituts für Technologie (KIT) , aufgebaut und betrieben.

In den letzten Jahren gab es immer wieder Experimente, die unerwartete Signale in ihren Apparaturen gemessen haben. Im Juni dieses Jahres veröffentlichte auch das Vorgängerexperiment, XENON1T, einen überraschenden Überschuss an Ereignissen. Ob es sich dabei um ein erstes Signal dunkler Materie handelt, sollten wir mit XENONnT schon in den ersten Monaten der Datennahme überprüfen können. Auch wenn sich dieses erste Signal bestätigen sollte, werden noch viele Fragen offenbleiben. Deshalb wird schon das nächste Experiment zur Suche nach schweren WIMPs vorbereitet: DARWIN (DARk matter WImp search with liquid xenoN) wird mit 50 Tonnen Xenon die letzten noch unbekannten Parameterbereiche der WIMPs abtasten, bevor dann Neutrinos aus dem All im Xenon sichtbar werden, als solches ein tolles Signal, aber auch eines, das ein seltenes WIMP-Signal dann überdecken wird. Wir am KIT arbeiten momentan am Design des Elektrodensystems, um in dem zylindrischen Xenon-Tank ein möglichst hohes und homogenes elektrisches Feld zu erreichen, in dem die Signal-Elektronen an die Oberfläche geführt werden. Auch Studien zur erreichbaren Sensitivität von DARWIN für dunkle Materie-Teilchen und andere extrem seltene teilchenphysikalische Prozesse, z. B. den neutrinolosen doppelten Betazerfall*, werden zur Optimierung der Materialauswahl und des Messaufbaus durchgeführt. Neben unserer Arbeitsgruppe sind am internationalen DARWIN-Projekt, das in den nächsten fünf bis zehn Jahren realisiert werden soll, noch 29 weitere Institutionen aus zwölf Ländern aus der Physik und den Ingenieurswissenschaften beteiligt. Es bleibt also spannend für die heutigen Forschenden, aber auch für die Studierenden – die Forschenden von morgen!

Abbildung 2: Schematische Darstellung eines Blickes in den XENONnT Detektor. In einem doppelwandigen Stahlbehälter, dem Kryostaten, mit einem Durchmesser von 1,6 Metern und einer Höhe von 2,8 Metern befinden sich 8 Tonnen gekühltes Xenon. Das Tankinnere ist mit Elektroden (Kupferringe) umgeben und mit Teflon ausgekleidet, um das bei einem Stoß produzierte Licht über Reflexionen zu den Lichtsensoren (PMT) zu führen, die sich in Sensorfeldern an der Unter- und Oberseite des zylindrischen Volumens befinden. Der hier dargestellte Kryostat ist zusätzlich von einem 700 Kubikmeter großen Wassertank umgeben, in dem von außen eindringende, geladene Teilchen gestoppt bzw. erkannt und somit als ein mögliches Signal dunkler Materie verworfen werden können

Abbildung 3: Zusammenbau des oberen XENONnT-Sensorfeldes aus 253 Photomultipliern in die Kupferhalterung mit Hochspannungsversorgungs- und Signal-Kabeln.

Die Gravitation ist die dominierende Wechselwirkung zwischen den Planeten und der Sonne. Sie ist für die Gestalt großräumiger Strukturen des Universums, wie beispielsweise der Milchstraße, verantwortlich. Gravitation geht von jedem Körper mit Masse aus und wirkt auf jede andere Masse. Mit der Entfernung nimmt sie ab, hat allerdings eine unendliche Reichweite. Ihr Austauschteilchen ist das hypothetische Graviton.

Die elektromagnetische Wechselwirkung geht von elektrischen Ladungen, magnetischen Dipolen und elektromagnetischen Feldern aus. Wie die Gravitation hat sie eine unendliche Reichweite, je nach Vorzeichen der Ladungen wirkt sie anziehend oder abstoßend. Das Photon ist das Austauschteilchen der elektromagnetischen Wechselwirkung. Sie ist für alltägliche Phänomene wie Licht, Elektrizität und Magnetismus verantwortlich.

Die schwache Wechselwirkung (auch schwache Kernkraft) ist verantwortlich für bestimmte radioaktive Zerfälle und die Umwandlung beteiligter Teilchen. Sie wirkt auf sehr kleinen Abständen. Die Austauschteilchen der schwachen Wechselwirkung sind Wund Z-Bosonen. Die Theorie der schwachen Kernkraft sagte das Higgs-Boson voraus, für das es 2012 am CERN den ersten experimentellen Nachweis gab.

Die starke Wechselwirkung (auch starke Kernkraft) bindet sogenannte Quarks aneinander. Quarks sind die elementaren Bestandteile der Hadronen, zu denen beispielsweise die Atomkern-Bausteine Protonen und Neutronen zählen. Folglich bewirkt die starke Wechselwirkung indirekt das Zusammenhalten der Atomkerne und hat nur eine sehr kurze Reichweite. Entsprechend wurde ihr Austauschteilchen „Gluon“ benannt.

* NEUTRINOS
In der Ausgabe des KT* 55 haben wir mit Prof. Dr. Drexlin (Institut für Experimentelle Teilchenphysik – ETP und Institut für Astroteilchenphysik – IAP) darüber gesprochen, wie im Rahmen des KATRIN Experiment die Masse der Neutrinos misst und welche Bedeutung dies für die Entstehung für das Universum hat. Der Artikel des KT* 55 sowie weitere spannende vorangegangene Ausgaben des Karlsruher Transfers sind in unserem Archiv unter https://fuks.org/archiv/ einsehbar.

* XENONnT-EXPERIMENT
XENONnT ist das aktuellste einer ganzen Reihe von früheren XENON-Experimenten, deren Namen sich nach der verwendeten Menge an Xe orientieren; XENON10 mit 10kg Xe, XENON100 mit 100kg, XENON1T mit einer Tonne, und nun XENONnT, wobei n für 8.4 Tonnen Gesamtinventar und 5,6 Tonnen Xe im Zentralbereich des Detektors steht.

* DOPPELTER BETAZERFALL
Unter dem doppelten Betazerfall versteht man einen sehr seltenen radioaktiven Zerfall, bei dem sich die Kernladungszahl um zwei Einheiten ändert, z.B. den Übergang von 136Xe nach 136Ba. Im Standardmodell der Teilchenphysik ist diese Kernumwandlung selten, aber mit der simultanen Produktion zweier Neutrinos erlaubt. Sind Neutrinos ihre eigenen Antiteilchen, so wäre auch eine Umwandlung OHNE Neutrinos möglich: der neutrinolose doppelte Betazerfall.

Dr. Klaus Eitel

forscht am Institut für Astroteilchenphysik (IAP) am KIT. Ursprünglich in der Neutrinophysik beheimatet, konzentriert er sich seit 2005 ganz auf die Suche nach dunkler Materie – zunächst mit kryogenen Germanium-Detektoren im EDELWEISS Experiment, das in den italienisch-französischen Alpen durchgeführt wurde. Aktuell ist er Mitglied der XENON- und der DARWIN-Kollaboration und fiebert gespannt der ersten Messung mit dem XENONnT-Detektor entgegen.

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