Space 4.0
Der Begriff Industrie 4.0 kennzeichnet die Veränderungen der industriellen Prozesse aufgrund der zunehmenden Digitalisierung und Vernetzung. In Anlehnung an den Begriff „Industrie 4.0“ wurde „Raumfahrt 4.0“ oder besser „Space 4.0“ formuliert. Die Bezeichnung „Space“ eignet sich besser als das deutsche Wort „Raumfahrt“, da mit „Space“ sowohl die Raumfahrt als auch das Weltall eingeschlossen werden.
von Prof. Dr. Johann-Dietrich Wörner
Wenn man von Space 4.0 spricht, sollten die Entwicklungen über Space 1.0, Space 2.0 und Space 3.0 bekannt sein, um die Positionierung von „Space 4.0“ besser zu verstehen:
Space 1.0 kennzeichnet den Aufbruch der Menschen ins Weltall und zwar durch Astronomie. Space 1.0 ist also immer noch präsent und aktuell. Space 2.0 beschreibt die Zeit des Wettlaufs im All, umfasst also die Mitte des letzten Jahrhunderts. Auch hier ist es so, dass immer noch einzelne Aspekte existieren, z.B. im Bereich der Exploration von Planeten. Space 3.0 beschreibt die Erweiterung der Raumfahrt in neue Anwendungsgebiete und die Ansätze zur internationalen Kooperation. Erdbeobachtung, Navigation, Telekommunikation und die Internationale Raumstation sind typische Vertreter von Space 3.0.
In dieser sich verändernden „Raumfahrtwelt“ hat sich die Europäische Raumfahrtagentur ESA entwickelt. Durch den Zusammenschluss der zwei europäischen Raumfahrteinrichtungen „European Space Research Organisation“ und „European Launcher Development Organisation“ wurde 1975 die ESA als zwischenstaatliche Organisation gegründet. Heute hat die ESA 22 europäische Mitgliedsstaaten sowie Slowenien als assoziiertes Mitglied und Kanada mit dem Status eines Kooperationslandes. Die Grundlage der ESA ist die Konvention von 1975, die von den Parlamenten der Mitgliedsstaaten durch Ratifizierung zu nationalen Gesetzen wurde. Die ESA ist als umfassende Raumfahrtagentur in allen Gebieten der Raumfahrt tätig. Die verschiedenen Aktivitäten von Erdbeobachtung, Navigation und Telekommunikation, Wissenschaft und Exploration, Technologieentwicklung, Satellitenkontrolle und Transportsystemen sowie das Aspekte der Sicherheit sind innerhalb der ESA in vier Säulen (engl. „Pillars“) strukturiert und organisiert.
Heute stellen wir einen massiven Paradigmenwechsel, ja einen Umbruch in der Raumfahrt fest. Die Anzahl der Raumfahrtakteure ist massiv gestiegen: Raumfahrtnationen, Industrie und wissenschaftliche Einrichtungen in der ganzen Welt sind in der Raumfahrt aktiv. Das Spektrum der Anwendungen wird jeden Tag größer, die Motive haben sich verändert, woraus wiederum Rollenänderungen der Akteure resultieren. „New Space“, also neue Modelle auf der Basis privater Investitionen und anderer Herangehensweise, sind weltweit zu beobachten. Die Beteiligung der Bevölkerung bei der Entscheidung über Raumfahrt nimmt einen immer breiteren Raum ein. Die Aspekte der Digitalisierung, also Industrie 4.0, sind auch in der Raumfahrt zu sehen. Das alles soll der Begriff Space 4.0 umfassen.
Für die ESA konkret heißt es, neue Realisierungsmodelle wie „schlüsselfertige Projekte“ oder multinationale Raumfahrtkonzepte zu gestalten. Die bisherigen Methoden der Projektfinanzierung und -steuerung, auch mit teilweiser Finanzierung durch die Industrie (Public Private Partnership), bleiben erhalten, zumindest in Raumfahrtbereichen wie Wissenschaft, Exploration und Navigation, bei denen das öffentliche Interesse der Treiber ist. Die veränderten Realisierungsmodelle führen dazu, dass die ESA nicht nur klassische Agenturaufgaben wahrnimmt, sondern als Partner, Makler, Enabler und Facilitator aktiv ist. Diese Veränderungen erfordern auch intern Innovationsprozesse bezüglich der Entscheidungsverfahren und Prozesse.
Space 4.0 bedeutet für mich aber eben auch die europäische Dimension zu stärken.
Die Tatsache, dass man aus dem All keine Ländergrenzen sieht, sollte von uns als Maxime für die Handlungen genommen werden. Raumfahrt kann und sollte irdische Konflikte und Probleme überbrücken – ein weiteres Merkmal von „Space 4.0“. Das Europäische Astronautencorps ist dafür ein gutes Beispiel (Abbildung 1).
Abbildung 1: Astronautenauswahl von 2009 (zweiter v.r.: Alexander Gerst)
Ein weiterer Aspekt von Space 4.0 betrifft die nahtlose Innovationskette von Grundlagenforschung bis zur Anwendung im Markt (Abbildung 2).
Unter Berücksichtigung des Vorhandenseins verschiedener Disziplinen wird aus der Innovationskette ein Innovationsnetz, das die Wechselwirkung unterschiedlicher Bereiche beschreiben soll. Hier kommt der Nutzung von Erkenntnissen und Technologien der Raumfahrt auf der Erde genau so viel Wert zu wie der Verwendung von „irdischen“ Entwicklungen in der Raumfahrt. Der Rauchmelder möge für die erste Überlegung stehen, der industrielle 3D-Drucker für die zweite.
Abbildung 2: Innovationsnetz der ESA
Ein Beispiel der existenziellen Wirkung von Grundlagenforschung ist die Relativitätstheorie von Albert Einstein, ohne deren Anwendung der Fehler moderner Satellitennavigation 500 m in nur einer Stunde betragen würde: Satellitennavigation hängt ganz wesentlich von der hochgenauen Zeit an Bord der Satelliten ab. Da Zeit gemäß Einstein von der Geschwindigkeit und der Schwerkraft abhängt, sind Korrekturen der Borduhren notwendig, um die gewünschte Genauigkeit zu realisieren.
Ein besonderer Aspekt der Industrialisierung der Raumfahrt im Zeichen von Space 4.0 ist die Anwendung von „Big Data“ bei der Erdbeobachtung (Abbildung 3). Die Zusammenführung von Daten aus verschiedenen Quellen erzeugt neue Informationen, wie am Beispiel des Meerwasseranstiegs erkannt werden kann: Erst durch die Daten mehrerer Satelliten wird die Tendenz zuverlässig über einen längeren Zeitraum erkennbar. Ein anderes Beispiel ist die parallele Verwendung von AIS-Daten (Automatic Indentification Signals) von Schiffen (Abbildung 4) und die Beobachtung (optisch oder Radar) durch Satelliten: Durch Vergleich der Datensätze lassen sich kriminelle Handlungen, wie z.B. Piraterie, erkennen.
Abbildung 3: Meerwasseranstieg als Beispiel für Big Data. Die Daten der verschiedenen Satelliten zeigen den gleichen Trend.
Abbildung 4: AIS-Signale der Schiffe. Die Farbe gibt Aufschluss darüber, wie stark die Routen befahren sind.
Space 4.0 soll aber auch die Tatsache umfassen, dass neue Technologien zum Einsatz kommen können:
- Herstellung und Montage im All
- Selbstheilende Systeme
- Quantentechnologie
- Nanotechnologie
- Künstliche Intelligenz
- …
Als letzter Aspekt von Space 4.0 sind die Aktivitäten zu sehen, die insbesondere auf die Sicherheit im All ausgerichtet sind. Weltraumwetter, Weltraumschrott, Asteroiden etc. gefährden unter Umständen nicht nur die Infrastruktur, bestehend aus Satelliten und Raumstation, sondern können auch auf der Erde erhebliche Auswirkungen haben. Aus diesem Grund wird sich die ESA in Zukunft insbesondere der Sicherheit widmen, um neben der Beoachtung und Warnung auch aktive Gegenmaßnahmen zu entwickeln. Dazu gehören die Entwicklung von Systemen zur Weltraumschrottentfernung genauso wie Konzepte zur Abwehr eines eventuellen Asteroideneinschlags.
Space 4.0 wird die nächste Zukunft der Raumfahrt massiv verändern, eingetretene Pfade in Frage stellen, aber auch ganz neue Möglichkeiten eröffnen. Dabei geht es im Kern immer um dasselbe Thema: Das Leben auf der Erde auch in Zukunft positiv zu gestalten.