Langage, Langue, Parole – Entwicklung der Sprache als die größte Leistung der Menschheit

In der Ära des großartigen technischen und naturwissenschaftlichen Fortschritts ist es vielleicht ungewöhnlich, genau die Sprache als die größte und wichtigste menschliche Leistung aller Zeiten zu bezeichnen. Im Internet kursieren zahlreiche Listen mit gesellschaftsprägenden Erfindungen, die die einzelnen Epochen der Geschichte prägten. Allerdings verdanken wir die Basis der menschlichen Entwicklung den Sprach­forschern, die das wichtigste Kommunikations- und Machtinstrument beobachteten und entwickelten. Von Hieroglyphen bis zu komplexen Sprachsystemen – die Entwicklung verdanken wir nicht nur der Zeit oder dem natürlichen Zufall.

von Sylwia Weronika Was

In unserer heutigen Gesellschaft herrscht die Überzeugung, dass die Technik und Naturwissenschaften den größten Applaus verdienen, während die Geisteswissenschaften schüchtern im Schatten ihre relevante, gesellschaftliche Rolle verteidigen müssen. Das Rad, die Elektrizität, der Computer oder das Internet – dies alles sind große Schritte der Menschheit, die zwar unsere Entwicklung ermöglicht haben, aber ohne Geisteswissenschaften nicht möglich gewesen wären. Die Basis der menschlichen Entwicklung können wir nämlich den Sprachwissenschaftlern verdanken, den Entwicklern von komplexen Sprachsystemen, welche die zwischenmenschliche Kommunikation und die Verbreitung von Wissen ermöglichen. Um die genaue Entwicklung der Sprache und alle ihre Aspekte zu beschreiben, bräuchte ein Autor wahrscheinlich tausende von Seiten und mehrere Buchbände. Die Sprache ist eine formbare Materie, die über Epochen ständigen Veränderungen unterlag. Veränderungen, die nicht nur durch die Zeit, sondern auch durch die kulturelle Vielfalt der globalen Bevölkerung hervorgebracht wurden.

Eine Definition des Begriffs „Sprache“
Um das komplizierte Konstrukt der Sprach­wissenschaft (Linguistik) noch deut­licher verstehen zu können, ist es wichtig, zuerst den Begriff „Sprache“ genau zu definieren. Eine klassische Defini­tion aus der Brockhaus Enzyklopädie, bezeichnet den Begriff „Sprache“ als System von Zeichen und Regeln, das den Menschen als Kommunikationsinstrument dient. Das bedeutet, dass sowohl der ­Sender als auch der Empfänger einer Nachricht mit dem gleichen Code operieren müssen. Die Gesprächspartner wählen aus dem Code (System) passende ­Einheiten und grammatikalische Regeln, um eine Nachricht zu verfassen und zu entschlüsseln. Diese Definition ist aber sehr allgemein. Der ­Begriff „Sprache“ wurde im Jahr 1919 durch den Schweizer Sprachwissenschaftler Ferdinand de Saussure revolutioniert. Für Saussure besteht die Sprache aus drei ­Aspekten: Langage (Sprachfähigkeit), Langue (Sprach­system) und Parole (Sprachgebrauch). Die Langage meint das biologische Sprachvermögen und ist damit nur für die Menschen charakteristisch. Denn diese Fähigkeit unterscheidet uns von Tieren. Die Langue ist die allgemeine Sprache wie z. B. Deutsch oder Englisch mit ihrem abstrakten Zeichen­system und jeweiligen grammatikalischen Regeln. ­Parole bezeichnet den Akt des Sprach­gebrauchs, d. h. die Art, wie bestimmte Laute oder Lautfolgen aus­gesprochen werden. Parole bedeutet also die Realisierung der Langue und ist individuell verschieden.

Die Dauerhaftigkeit der Schriftlichkeit war ent­scheidend für den Fortschritt
Um die gesellschaftliche Bedeutung der Sprachentwicklung noch näher zu beleuchten, ist es wichtig, die Mündlichkeit von der Schriftlichkeit zu unterscheiden: Die Mündlichkeit, die über die Schall­wellen Sprachlaute entwickelte, und die Schriftlichkeit, die aus visuellen Symbolen Schriftzeichen produzierte. Sowohl die Mündlichkeit als auch die Schriftlichkeit spielten und spielen noch heute in der Entwicklung der Menschen eine relevante Rolle. Allerdings besteht zwischen den beiden Formen der Sprache ein wesentlicher Unterschied. Im Gegensatz zu dauerhaften Symbolen sind die Laute durch Flüchtigkeit betroffen und geraten schnell in Vergessenheit. Wichtige Ideen und Inhalte benötigen die Schriftform, die eine Weiterentwicklung und Verbreitung von Wissen ermöglicht. Große technische oder naturwissenschaftliche Erfindungen basieren auf langen Entwicklungslinien wie z. B. der Computer. Die Geschichte des Rechners reicht sogar in die Antike zurück und umfasst mehrere Vorläufer des modernen Alleswissers. Die Entwicklung der Maschine ohne Entwicklung der Sprache und Speicherung von Wissen wäre undenkbar gewesen.
Die Schriftlichkeit scheint daher in der Geschichte der Menschen eine wichtigere Rolle zu spielen als die Mündlichkeit. Aus diesem Grund verdient es besonders die Entwicklung der schriftlichen Sprache, endlich die ihr gebührende Aufmerksamkeit zu bekommen. Die Schriftlichkeit nahm ihren Anfang vor circa 4 000 Jahren im Nahen Osten. Die Keilschrift gehört ­neben den ägyptischen Hieroglyphen zu den ältesten bekannten Schriftformen. Diese Schrift ermöglichte es zum ersten Mal, Gedanken und Ideen festzuhalten und weiterzutragen. Am Anfang operierte die Keilschrift mit Piktogrammen, d. h. Symbolen, die durch vereinfachte graphische Abbildungen eine kurze Information vermitteln konnten. Auch heute finden Piktogramme Verwendung, allerdings meist nur als Hinweisschilder, z. B. auf Flughäfen oder im Straßenverkehr. Da die Bilderschrift zu aufwendig war und nur wenig Inhalt speichern konnte, entwickelte sie sich zu einer Silbenschrift. Die Inhalte wurden auf Tontafeln aufgetragen, die bis heute überdauern. Die Inschriften aus Keilschrift ermöglichen es uns, die Welt vor tausenden von Jahren kennenzulernen. Die Schrift wurde von zahlreichen Kulturvölkern übernommen, weiterentwickelt und verbreitet.
Die Verbreitung von Wissen und Ent­wicklung der Gesellschaft zog die Erfindung des Wörterbuchs nach sich. Die schon hoch entwickelte Schriftlichkeit und somit das gespeicherte Wissen war damit für alle Menschen zugänglich. Bereits in der Antike entstanden Wörter­bücher, die die Bedeutung von unbekanntem Wortschatz erklärten. Die Wörterbücher waren für das Lesen und Studieren von seinerzeitiger Literatur essentiell. Im Mittelalter beinhalteten Wörterbücher auch die sogenannte lingua vulgaris, also die Sprache des Volkes. Im Jahre 1538 entstand in England ein zweisprachiges Wörterbuch unter dem Titel „The Dictionary of Syr ­Thomas Eliot Knyght“, das durch den ­englischen Übersetzer Sir Thomas Elyot ent­wickelt wurde. Heutzutage gibt es verschiedene Typen von Wörterbüchern, die uns z. B. beim Lernen von Fremd- oder Fachsprachen unterstützen. Mit der Weiterentwicklung von Wörter­büchern beschäftigt sich die Lexikografie, die zu den Sprachwissenschaften gehört.

Linguistik ist eine Wissenschaft der Sprach­struktur und -wahrnehmung
Außer Lexikografie sind die Kerngebiete der Linguistik: Graphemik, Lexikologie, Morphologie, Phonetik, Phonologie, Pragmatik, Semantik und Syntax. Graphemik untersucht die Schrift als Sprachsystem und Lexikologie beschäftigt sich mit der Struktur im Wortschatz einer Sprache. Phonetik und Phonologie untersuchen die Sprachlaute und Sprachlautsysteme. Zu den Aufgaben der Pragmatik gehört die Untersuchung der kontext­abhängigen Bedeutungen von Aus­­­sagen und Sprechakten, z. B. ironische Aussagen. Die Aussage „Das hast du ja toll hinbekommen“ kann je nach Kontext positiv oder eben ironisch gemeint sein, was meist am Tonfall erkennbar ist. Die Semantik untersucht Sinn und Bedeutung von einzelnen Wörtern und Sätzen, während die Syntax die Form und Struktur von Sätzen im Auge behält. Die sprachwissenschaftliche Forschung besteht nicht nur darin, die Entwicklung von Sprache oder die Strukturen sprachlicher Aussagen zu untersuchen, sondern auch darin, wie die Sprache in konkreten Kommunikationssituationen angewendet und wie sie wahrgenommen wird.
Die Sprache als Medium ermöglicht es uns, unsere Gedanken in Worte zu fassen und unser Wissen zu speichern. Die Sprache ist ein unumgängliches Instrument, das unsere Kommunikation und das Verstehen von Menschen aus allen Teilen der Welt erlaubt. Sie kann zudem als ein Machtinstrument angesehen werden, das die Massen positiv beeinflussen, aber auch kontrollieren und manipulieren kann. Die Sprache kann Konflikte mindern oder hervorrufen. Die Sprache spielt in vielen Bereichen unseres Lebens eine wesentliche Rolle und ihre Vernachlässigung würde wahrscheinlich die soziale Entwicklung deutlich abbremsen. Die Zukunft der Sprache ist jetzt noch unklar, aber es liegt in unserer Macht, wie sie sich weiter entwickelt.

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