Ich entscheide, was ich will – sagt mir mein Gehirn

Tagtäglich treffen wir Entscheidungen, manche augenblicklich, über andere denken wir wochenlang nach. Doch verfügen wir dabei über einen freien Willen? Vor allem den Neurowissenschaften zur Folge sind nicht allein die bewussten Gedanken verantwortlich für unsere Entscheidungen und unser Verhalten. Wie frei sind wir wirklich?

von Maren Dern

Der Wecker klingelt. Snooze. Fünf Minuten später klingelt er erneut. Snooze. Weitere fünf Minuten später ist meine Motivation, mich aus dem Bett zu bewegen, immer noch nicht wach geworden. Dabei gehörte das frühe Aufstehen, das morgendliche Joggen und zwölf weitere richtig gute (Standard-)Ideen zu meinen Vorsätzen für das neue Jahr. Ich rolle mich aus dem Bett und gehe in die Küche. Mein Mitbewohner steht vor dem Kühlschrank und meckert über den fehlenden Inhalt. Ich gehe joggen, er einkaufen. Zurück kommt er mit zwei gut gefüllten Tüten. Wir teilen uns seine Ausbeute, aber am Ende bleibt viel übrig und wir fragen uns, wer das alles essen soll.

Hungrig einkaufen zu gehen, ist keine gute Idee. Auch mehrere Vorsätze gleichzeitig umsetzen zu wollen, scheint ein Scheitern vorzuprogrammieren. Woran es liegt, dass wir nicht immer so rational handeln, wie wir es uns vorgenommen haben und warum es uns so schwerfällt, uns zu ändern, fasziniert Psychologen und Neurowissenschaftler schon lange.

Benjamin Libet war Neurowissenschaftler an der University of California. 1979 forderte er in einem Experiment seine ProbandInnen auf, zu einem von ihnen gewählten spontanen Zeitpunkt eine Hand zu bewegen. Wann sie ihre Entscheidung zur Handbewegung getroffen hatten, konnten sie durch das Beobachten einer Art Uhr später genau benennen. Dabei ließ er die Gehirnaktivität durch ein EEG (Elektroenzephalogramm) aufzeichnen und durch eine zusätzliche Elektrode am Handgelenk den Zeitpunkt der Bewegungsausführung bestimmen. Aus früheren Versuchen war bekannt, dass sich kurz vor einer ausgeführten Handlung die Gehirnaktivität verstärkt. Libet sah nun, dass die bewusste Entscheidung zur Bewegung zeitlich nach der gemessenen Gehirnaktivität erfolgte. Zwischen diesen beiden Zeitpunkten verging eine halbe Sekunde. Demnach steht die Handlung also fest, bevor wir es wissen. Sein Experiment hat ihn berühmt gemacht und ist vielfach stark diskutiert worden.

Als Sitz des Bewusstseins gilt der präfrontale Cortex, ein Bereich des Gehirns direkt hinter der Stirn. Erlernte Prozesse wie beispielsweise Autofahren werden von anderen Hirnarealen gesteuert. Zumindest so lange, bis etwas Unvorhergesehenes passiert. Dann wird der präfrontale Cortex ebenfalls aktiviert. Vieles von dem, was wir im Alltag tun, erledigt unser Gehirn, ohne dass wir aktiv darüber nachdenken müssen. Das spart Zeit und vor allem Energie. Aber nach Libet behält das Unterbewusstsein die Kontrolle, auch wenn ­unser Bewusstsein hinzugezogen wird. Wenn nun der unbewusste Teil unseres Gehirns Entscheidungen trifft, bevor es der bewusste Teil weiß, ist unser Wille dann frei?
Nicht nur erlernte Prozesse wie Bewegungsabläufe steuern unsere Handlungen und unser Verhalten. Dass wir dazu tendieren, anders zu handeln, wenn unsere Bedürfnisse nicht befriedigt sind, kann jeder an sich selbst beobachten. Zum Beispiel eben dann, wenn wir hungrig einkaufen gehen und viel mehr kaufen als geplant oder notwendig. Unser Ver­dauungssystem meldet unserem Gehirn aber nicht nur, dass wir neue Nahrung brauchen. Forscher bezeichnen die Verknüpfung dieser beiden Organe als Darm-Hirn-Achse. Aufregung und Stress schlägt auf den Magen, aber die Kommunikation verläuft keineswegs einseitig.

Timothy Dinan und seine Kollegen vom University College in Cork untersuchten den Zusammenhang zwischen der mikrobiellen Zusammensetzung der Darmflora* und dem Verhalten von Mäusen. Den Versuchstieren fehlte die auf natürliche Weise vorkommende mikrobielle Besiedlung des Darmtraktes. Diese Tiere mieden Artgenossen und blieben wenn möglich alleine. Sie hielten sich lieber bei bekannten Tieren auf, als fremde Tiere neugierig zu beschnuppern, wie es die Kontrollgruppe mit normaler Darmflora tat. In ähnlichen Versuchen zeigten sich weitere Auswirkungen auf soziale Verhaltensweisen oder sogar Zusammenhänge mit psychischen Erkrankungen wie Depressionen oder Autismus. In Japan fanden Forscher der Shimane-Universität beispielsweise heraus, dass die Einnahme eines bestimmten Antibiotikums Depressionssymptome beim Menschen lindern kann. Antibiotika wirken ebenfalls auf die Darmflora und ein möglicher Zusammenhang soll weiter untersucht werden.
Dazu kommen weitere körpereigene Prozesse, die unbemerkt unser Verhalten beeinflussen. Ende 2016 veröffentlichten Federica Biassoni und Kollegen in Mailand eine Studie zu dem Einfluss des Zyklus von Frauen auf ihr Verhalten. Sie hatten 25 Probandinnen zum Zeitpunkt ihres Eisprungs und kurz vor Einsetzen der Menstruation Fragebögen zum Fahrverhalten ausfüllen lassen. Außerdem zeigten sie Videos von Autofahrten aus Fahrersicht. Näherte sich das Fahrzeug einem Zebrastreifen, sollten die Probandinnen entscheiden, zu welchem Zeitpunkt sie bremsen würden. Während des Eisprungs verhielten sich die Frauen wesentlich vorsichtiger als während der unfruchtbaren Tage. Die Forscher sehen dieses unterschiedliche Verhalten als Selbstschutz während der fruchtbaren Tage und somit als Sicherung möglicher Nachkommen.

Erlerntes Verhalten, Darmflora, Hormone – die Liste solcher Einflüsse ließe sich wohl beliebig weit fortführen. Mit ziemlicher Sicherheit haben wir gerade einmal Einblick in einen Bruchteil dessen, was uns steuert. Aber was bedeutet das für unsere Handlungen und unsere Entscheidungen?
Richard David Precht lässt in seinem Buch Wer bin ich und wenn ja, wie viele? Benjamin Libet mit Arthur Schopenhauer* eine fiktive Diskussion führen. Schopenhauer ist überzeugt, dass wir Menschen keinen freien Willen haben und sieht sich in dem Experiment von Libet bestätigt. Doch Libet ist nicht ganz seiner Meinung. Denn nachdem die bewusste Entscheidung zum Handeln getroffen wurde, vergeht erneut eine halbe Sekunde bis zur Handlung selbst. Eine halbe Sekunde, um sich doch noch gegen die Handlung zu entscheiden. Und Precht lässt Libet sagen: „… das heißt, dass es zwar keinen freien Willen gibt, aber immerhin so etwas wie einen freien Unwillen, mit dem ich das Schlimmste ja immer noch verhüten kann.“ Doch auch diese Veto-Option scheint einer anderen Studie zufolge nicht auf freiem Willen zu basieren. Der freie Unwille ist demnach ebenso unbewusst wie der erste Entschluss zur Handlung.

Viele der unbewussten Prozesse sind hilfreich und erleichtern uns den Alltag. Wenn wir aber merken, dass wir uns selbst im Weg stehen, können wir die Macht des Unbewussten möglicherweise überlisten. Vielleicht nicht durch einen freien Unwillen, aber Wissen ist bekanntlich Macht. Und in diesem Fall auch Macht über sich selbst. Also: Vor dem nächsten Einkaufen lieber erst einmal satt essen.

*DARMFLORA
Der Verdauungstrakt von Tieren und Menschen ist besiedelt mit einer ganzen Reihe von Mikroorganismen, die die aufgenommene Nahrung zersetzen und so Nährstoffe verfügbar machen. Dabei variiert die Zusammensetzung dieser Organismen von Individuum zu Individuum.

*SCHOPENHAUER
Arthur Schopenhauer (1788–1860) war ein deutscher Philosoph, Autor und Hochschullehrer. Bezüglich des freien Willens war er der Meinung, dass dieser vom Charakter des Menschen abhängig und somit nicht von Grund auf frei sei.

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