Politische Technologien gegen Populismus – Theorie und Experiment zu einem alternativen Wahlsystem am KIT
Wieso setzen sich bei aktuellen Wahlen radikale Kandidaten und Parteien immer stärker durch? Hat niemand den Mut, sich gegen die Populisten aufzulehnen oder repräsentieren diese wirklich die Meinung von breiten Teilen der Bevölkerung? Hier wurde eine alternative Wahlmethode entwickelt, um die „policy representation“ – die politische Repräsentativität – zu verbessern, und das erste reale Wahlexperiment durchgeführt, um diese Methode zu testen.
von Tobias Dittrich und Andranik Tangian
Die Demokratie in der westlichen Welt befindet sich in einem Wandel, welcher in den letzten Jahren immer mehr durch populistische und häufig radikale Politiker bestimmt wird. Diese Entwicklung ist auf einen gefühlten Kontrollverlust der Bürger an die politische „Elite“ zurückzuführen. Es gibt klare Anzeichen dafür, dass sich die Bevölkerung von Politikern zunehmend schlecht repräsentiert fühlt. So gelingt es populistischen Stimmen, Wähler mit teils inkonsistenten und unlogischen Konzepten von sich zu überzeugen. Dementsprechend kann man in den vergangenen Jahren sowohl bei großen Protestbewegungen wie Stuttgart 21 und Pegida als auch bei politischen Wahlen mit starken (rechts)populistischen Zugewinnen, wie zum Beispiel in den USA, Frankreich, Niederlande und Deutschland erkennen, dass Teile der Wählerschaft sich gegen das vorherrschende politische System und dessen Methoden und Arbeitsweisen auflehnen. Dabei stellt sich die Frage, inwieweit man dieser Entwicklung in einer aufgeklärten und informierten Gesellschaft entgegenwirken kann und wessen Aufgabe das ist.
Des Weiteren wird in der UNO, der EU, in nationalen Regierungen sowie innerhalb von politischen Parteien und Gewerkschaften immer mehr über ein vorherrschendes „demokratisches Defizit“ gesprochen. Um dies zu untersuchen, wurde das Konzept der „policy representation“ eingeführt. Es beschreibt, wie gut die Regierungen und Parteisysteme die politischen Präferenzen der Wähler widerspiegeln. Stellen wir uns vor, die Repräsentanten in den Parlamenten würden anhand ihrer wirklichen Repräsentativität in der Gesellschaft ausgewählt werden. Würden sich die Bürger und Bürgerinnen nicht wieder besser vertreten fühlen und das Vertrauen in die Politik zurückgewinnen?
Social Choice Theorie
Bereits 2014 berichtete Prof. Dr. Clemens Puppe vom Lehrstuhl für Wirtschaft s theorie in der KTAusgabe „Manipulation und Verführung“ über die mathematische Social Choice Theory. Diese axiomatische Theorie der kollektiven Entscheidungen beschäftigt sich unter anderem mit Abstimmungen, Wahlen und den daraus resultierenden Fragestellungen. Der axiomatische Ansatz ermöglicht es Entscheidungsvoraussetzungen qualitativ zu analysieren. Dabei schließt er allerdings alle imperfekten Lösungen aus, was in der Praxis häufig zu einschränkend ist. Aus diesem Grund entwickelt Prof. Dr. Andranik Tangian am Lehrstuhl eine sogenannte mathematische Theorie der Demokratie, um unvermeidliche, gesellschaftliche Kompromisse durch Optimierungsmodelle zu finden.
Eine Möglichkeit, die Repräsentativität eines Kandidaten oder einer Partei zu bestimmen, wurde im Buch „Mathematical Theory of Democracy“ (Tangian 2014) aufgezeigt und in einem Experiment im Sommer 2016, im Zuge der Studierendenparlamentswahl am Karlsruher Institut für Technologie (KIT) erstmalig getestet. Die Grundidee basiert auf der Beobachtung, dass viele Wähler die Wahlprogramme der Parteien und deren gesellschaft liche sowie persönliche Konsequenzen aus verschiedenen Gründen nicht in voller Gänze überschauen können. Dies führt meist dazu, dass Wähler traditionell wählen – also an einer Partei festhalten, ohne sich Gedanken über mögliche Alternativen zu machen. Trifft diese Partei anschließend eine politische Entscheidung, welche zwar zu ihrem Wahlprogramm konsistent ist, dem Wähler allerdings missfällt, so fühlt sich der Wähler schlecht repräsentiert. Man spricht hier von irrationalem Wählerverhalten. Das kann zu Politikverdruss führen, welcher die Wähler unter Umständen in die Arme von Populisten trägt.
Aus diesem Grund wird vorgeschlagen, die Wähler nicht mehr direkt über Kandidaten oder Parteien abstimmen zu lassen, sondern ihre Präferenzen zu politischen Fragestellungen mithilfe eines Fra gebogens zu ermitteln. Basierend auf den Antworten wird das politische Profil des Elektorats gebildet. Die Parteien beantworten vor der Wahl die gleichen Fragen und ihre politischen Profile werden bekanntgegeben. Die Übereinstimmung dieser mit dem politischen Profil des Elektorats wird mithilfe zweier Indices gemessen, welche die Repräsentanz widerspiegeln. Anhand der Parteiindices werden die Parlamentssitze proportional verteilt.
Der Popularitätsindex einer Partei stellt den durchschnittlichen Prozentteil der zu repräsentierenden Wähler dar. Betrachten wir dazu ein kleines Beispiel mit drei Fragen:
1. Soll die Mehrwertsteuer gesenkt werden?
2. Soll eine Obergrenze für Flüchtlinge eingeführt werden?
3. Soll eine Autobahnmaut für PKW eingeführt werden?
Nehmen wir an, eine fiktive Partei beantwortet alle drei Fragen mit „Ja“ und die Bevölkerung stimmt bei einer Umfrage mit folgenden Prozentpunkten den Fragen zu: 1.) 60%, 2.) 20%, 3.) 10%. Der Popularitätsindex der fiktiven Partei beträgt somit (60% + 20% + 10%) / 3 =30%. Diese Partei repräsentiert somit durchschnittlich 30% der Bevölkerung bei jeder Frage.
Die Berechnung des zweiten Index erfolgt sehr ähnlich. Beim sogenannten Universalitätsindex werden aber nicht die absoluten Prozentwerte herangezogen, son dern die Häufigkeit der Mehrheitsrepräsentanz der Partei. In dem oben gewählten Beispiel stimmt die fiktive Partei nur in einer von drei Fragen mit der Mehrheit der Bevölkerung
überein (Frage 1) und hat somit einen Universalitätsindex von 1/3 = 33%.
Mithilfe dieser beiden Indices kann man nachweisen, dass bei der Bundestagswahl 2013 die Partei mit den meisten Stimmen (Union aus CDU und CSU mit 41,5% der Stimmen) unter den betrachteten 28 angetreten Parteien die niedrigste Repräsentanz in der Bevölkerung aufweist — eine klare Feststellung des „demokratischen Defizits“ (Tangian 2017).
Die Idee, anhand ausgewählter Fragen dem Wähler eine bessere Übersicht über die Parteienlandschaft und deren Parteiprogrammen zu geben, festigte sich in den 1990er Jahren in den Niederlanden mit dem Pro jekt „StemWijzer“, welches seit 1989 als Papier/Diskettenversion und ab 1998 als Onlineversion veröff entlicht wurde. 2002 wurde dieses Konzept dann auch in Deutschland durch die Bundeszentrale für politische Bildung in Form des „WahlOMats“ implementiert.
Ein entscheidender Unterschied ist jedoch die Implementierung der Stimmen. Beim WahlOMaten werden dem Wähler individuell nach Beantwortung der Fragen eine (oder mehrere) Parteien vorgeschlagen, welche am besten zu seinem politischen Profil passen. Im Gegensatz dazu verwendet das vorgeschlagene alternative Wahlsystem das politische Profil der ganzen Wählerschaft . Man ermittelt demnach eine Sitzverteilung, welche anhand der Repräsentativitätskriterien am besten zur gesamten Gesellschaft passt. Auf der nächsten Seite findet sich ein Bespiel zu den unter schiedlichen Architekturen des WahlOMaten und der alternativen Wahlmethode.
Bei den Wahlen der Verfassten Studierendenschaft des KIT (dem Studierendenparlament), welche vom 4. bis zum 7. Juli 2016 stattfanden, wurde das neue Wahlkonzept zum ersten Mal bei einer realen Wahl getestet. 45 Studierende führten im Rahmen eines KIT Seminars mit Unterstützung des AStA das Experiment durch. Ziel sollte in diesem ersten Schritt nicht die Zuteilung der Sitze mithilfe des neuen Systems, sondern das Aufzeigen von irrationalen Verhaltensweisen unter den Wählern sein. Die Wahl des Studierendenparlaments ähnelt sehr der Wahl zum Bundestag – es gibt auch hier eine Erststimme für einen Kandidaten sowie eine Zweitstimme für eine studentische Partei (im Weiteren: Liste). Die Listen beantworteten (unabhängig vom durch geführten Experiment) politische Fragen des sogenannten „StuPaOMats“; einer Adaption des WahlOMats zur KITStuPaWahl, der auch den Wählern vor der Wahl zur Verfügung stand. Teil des Experiments war eine sogenannte Drittstimme. Die Wähler wurden bei der Registrierung gefragt, ob sie eine zusätzliche Stimme in Form eines Fragebogens mit zehn zufällig gewählten Fragen aus dem StuPaOMat abgeben wollen (siehe unten). Von den 3.671 registrierten Wählern nahmen insgesamt 1.098 Wähler die Option der Drittstimme wahr.
Konnte man irrationales Verhalten unter den Wählern aufdecken?
Betrachtet man die mit Abstand erfolgreichste Liste bezogen auf die Zweitstimmen (FiPS mit 33,7%), so kann man feststellen, dass sich diese nur auf Platz fünf der Repräsentativität befindet (siehe Abbildung). Die Wähler verhalten sich also irrational, da viele Studierende nicht die Liste wählen, welche sie am besten repräsentiert. Außerdem zeigen die Daten, dass sich Wähler, die im Vorfeld der Wahl den StuPaOMaten verwendet haben, deutlich rationaler verhalten als welche, die ihn nicht genutzt haben (Tangian 2016). Was bedeutet das nun? Sollen wir uns ab jetzt dafür einsetzen, dass das neue Konzept verstärkt bei Wahlen eingesetzt wird und die Sitze anhand der Repräsentativität der Parteien vergeben werden? Dazu gibt es noch einige ungeklärte Fragen, welche zunächst genauer untersucht werden müssen: Sind die Wähler bereit, statt einer Stimme abzugeben, einen ganzen Fragebogen auszufüllen? Welcher Index sollte verwendet werden, um die Aufteilung vorzunehmen? Welche Fragen sollten verwendet werden? Wer darf die Fragen auswählen und wie können diese alle politischen Facetten der Parteien erfassen? Wenn diese Fragen zufriedenstellend beantwortet werden können, ist es vorstellbar, durch dieses alternative Wahlsystem die Irrationalität der Wähler und den damit zusammenhängenden Politikverdruss zu verringern und sich gesellschaftlich aus den Fängen der Populisten zu befreien. So wäre das Ergebnis wichtiger, demokratischer Entscheidungen der letzten Monate, wie der Brexit oder die Wahl Donald Trumps zum Präsidenten der USA, durch ein Wahlsystem mit höherer Repräsentativität mit großer Wahrscheinlichkeit ein anderes gewesen.
Beispiel zu unterschiedlichen Architekturen
Nehmen wir an, drei Wähler sollen darüber entscheiden, ob sie einen Kandidaten unterstützen möchten oder nicht. Jeder Wähler entscheidet dies anhand von drei ausgewählten Kriterien. Wenn der Kandidat in einem Kriterium dabei mit der Präferenz des Wählers übereinstimmt, wird dies mit einem Plus gekennzeichnet – wenn er nicht übereinstimmt, mit einem Minus. Die Übereinstimmung der Präferenzen der Wähler mit denen des Kandidaten sowie die Ergebnisse der beiden Wahlarchitekturen sind in folgender Tabelle dargestellt. Mit dem WahlOMatKonzept, welches einer individuellen Philosophie folgt, wird jedem Wähler einzeln die Entscheidung „Kandidat unterstützen“ (+) oder „Kandidat nicht unterstützen“ (-) vorgeschlagen. Erst anschließend werden die individuellen Stimmen aggregiert, was im Beispiel unten zu einer Ablehnung des Kandidaten führt. Die vorgeschlagene alternative Wahlmethode folgt einer Philosophie der kollektiven Bestimmung, nach welcher zunächst ein kollektives Meinungsprofil gebildet und dieses anschließend für eine endgültige Entscheidung verwendet wird. Beide Architekturen liefern in diesem Beispiel unterschiedliche Ergebnisse.
Popularitäts- und Universalitätsindices für drei Mengen der Wähler
a – alle Wähler, die in dem Experiment teilgenommen haben
s – StuPaOMat Benutzer
o – nicht StuPaOMat Benutzer
Weiterführende Literatur
- Amrhein, M. und Eßwein, B. (2016). The Third Vote (webpage + facebook). Thethirdvote.econ.kit.edu.
- Amrhein, M.; Diemer, A. und Tangian, A. (2016). Turning a political education instrument (Voting Advice Application) in a new election method. World Forum for Democracy, Strasburg, 7.-9.11.2016. www.coe.int/en/web/world-forum-democracy/2016-lab-7-reloading-elections.
- AStA Ventil (2016). Listenvorstellungen, Drittstimmenaktion, Wahlsystem (2016, Nr. 134) https://wahl.asta.kit.edu/Wahl16/wahlventil2016.pdf.
- Diemer, A. und Eßwein, B. (2016). The Third Vote (Documentation 10 min). https://www.youtube.com/watch?v=TCkSYpF5es8
- Tangian, A. (2014). Mathematical theory of democracy. Berlin: Springer.
- Tangian, A. (2016). The third vote experiment: VAA-based election to enhance policy representation of the KIT student parliament (No. 93). Working Paper Series in Economics, Karlsruher Institut für Technologie (KIT).
- Tangian, A. (2017). Policy representation of a parliament: the case of the German Bundestag 2013 elections. Group Decision and Negotiation, 26(1), 151-179.
Tobias Dittrich
ist Doktorand am Lehrstuhl für Wirtschaftstheorie am KIT. Dort forscht er unter anderem zu den Themen Social Choice Theory und Judgement Aggregation.
Prof. Dr. Dr. Andranik Tangian
ist Professor am Lehrstuhl für Wirtschaftstheorie am KIT. Zudem ist er Leiter des Referats Policy Modelling am Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut der Hans-Böckler-Stiftung.
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