Face Everthing And Rise: Mut ist nicht das Gegenteil von Angst
Es ist paradox: rein faktisch gesehen, leben wir in großer Sicherheit. Dennoch sind Angst, Mutlosigkeit und verwandte Geisteszustände, ebenso wie Depression und Burn-out auf einem Allzeithoch. Wie kommt das und wie können wir damit umgehen? Dazu möchte dieser Artikel Denkanstöße geben.
von Fabian Weis
Unsere Zeit ist gekennzeichnet durch das Mantra: „Jeder kann alles erreichen“ – sollte uns das nicht frei, glücklich und mutig machen? Nein, sagt Alain de Botton in seinem viel beachteten TED-Talk (bit.ly/TEDAlBo); weil uns dieses Mantra völlig falsche Vorstellungen vermittelt von dem, was tatsächlich möglich ist. Stecken wir unsere Energie in einen Lebensbereich und brillieren dort, bleiben andere zwangsläufig dahinter zurück. Wenn wir es nicht schaffen, uns von falschen Muss-Vorstellungen, allumfassender Lebensoptimierung und dem damit verbundenen Stress zu lösen, bleiben auch wir zurück. Frustriert. Mutlos. Ängstlich. Und weil die meisten Ängste ein gesellschaftliches Tabuthema sind, wird fleißig verdrängt und gelitten; ein angsterfülltes und fremdbestimmtes Leben in einer winzigen Komfortzone geführt.
Entwicklungsgeschichtlich ist Angst sinnvoll. Ohne sie wären unsere Vorfahren vermutlich von einem hungrigen Säbelzahntiger zum Frühstück verputzt worden. Angst schaltet das Hirn auf Autopilot: Flucht, Kampf oder Totstellen; das komplexe Denken bleibt auf der Strecke. Aber weder Vermeidung, blinder Aktionismus noch Apathie sind geeignete Strategien für unsere heutigen Herausforderungen. Dennoch können wir die Angst zu unserem Freund machen – besonders in den nicht lebensbedrohlichen Situationen. Hier weist sie uns auf Entwicklungsmöglichkeiten jenseits unserer ach so bequemen Komfortzone hin, in die wir uns allzu gerne zurückziehen.
Direkt außerhalb unserer Komfortzone liegt, anders als von den meisten erwartet, nicht direkt die Panikzone, sondern zunächst ein Wachstumsbereich mit überschaubarem Risiko. Um hier zu handeln und persönlich zu wachsen braucht es Mut; Mut, sich den Ängsten zu stellen; Mut, trotz des Risikos zu handeln; Mut, authentisch zu handeln, gemäß dem, was ich wirklich will.
Damit der Mut groß genug wird, muss die wahrgenommene Wichtigkeit der Entwicklungschance größer als die Angst sein. Wir können also erstere erhöhen oder die Angst verringern, um handlungsfähiger zu werden. Natürlich brauchen wir bei alledem das Gefühl der Selbstwirksamkeit und die Zuversicht, tatsächlich etwas bewirken zu können.
Die erhöhte Wichtigkeit ist schnell abgehandelt: uns stehen Hin-zu- und Weg-von-Motivatoren zur Verfügung. Suchen und finden wir mehr davon bzw. bewerten wir sie höher, steigt die wahrgenommene Wichtigkeit.
Angst ist vielschichtiger: sie hat physiologische Aspekte (z.B. Harndrang vor einer Prüfung), kognitive und solche, die sich in unserem Verhalten äußern. Die drei Aspekte beeinflussen sich gegenseitig und stellen ein verzahntes System dar. Dadurch ist es möglich, durch gezielte Einflussnahme in einem Bereich auch die anderen zu verändern.
Sehen wir uns zunächst die üblichen, jedoch auf Dauer ungeeigneten Strategien an: das sind Suchtmittel, Selbstvorwürfe, Vermeidung, Ausreden und der Weg des geringsten Widerstandes. Im besten Fall halten sie uns lediglich in unserer Komfortzone, oftmals machen sie alles jedoch noch schlimmer. Insbesondere Verdrängung führt vielfach zu einer von diffuser Angst geprägten Grundstimmung.
Betrachten wir daher, was uns dauerhaft zu einem mutigeren, erfüllteren Leben verhelfen kann. Generell hilfreich ist das bewusste Entspannen, für einen Ausgleich und die Balance der Lebensbereiche zu sorgen. Hierbei ist es wichtig, nicht wieder in gesellschaftliche Muss-Vorstellungen zu verfallen, sondern gezielt danach zu fragen, was mir gerade fehlt. Welche meiner Bedürfnisse werden nicht befriedigt und wie kann ich hier für mich sorgen? Auch Miesmacher zu meiden – Angst ist ansteckend – ist hilfreich, wenn auch schwierig: wir nehmen vor allem solche Informationen auf, die zu unseren Überzeugungen passen. Blockieren uns diese, gilt es folglich, bewusst nach gegenteiligen zu suchen, den eigenen Erwartungen zu misstrauen und fremde, wenig förderliche in Frage zu stellen. Und schließlich hilft die Einsicht, dass man sicher nicht der erste ist, der vor dieser Herausforderung steht. Vermutlich hat bereits jemand gangbare Strategien entwickelt, die es nur zu finden gilt – was in den meisten Fällen, dank der medialen Durchdringung unserer Welt, leichter als je zuvor ist.
Dem körperlichen Aspekt der Angst können wir z.B. durch Atemtechniken, progressive Muskelentspannung oder Autogenes Training begegnen. Eine in diesem Zusammenhang ebenfalls sehr wichtige Erkenntnis findet man in einem weiteren TED-Talk (bit.ly/TEDMcGo): Kelly McGonigal präsentiert darin die Erkenntnis, dass nicht der Stress an sich uns krank macht, sondern die Art und Weise, wie wir darüber denken. Wir können unsere Körperreaktionen umdeuten, Stress also als etwas Energetisierendes wahrnehmen; dann wirkt er auch so.
Meditation und Achtsamkeitsübungen umfassen körperliche und kognitive Aspekte, ebenso die meisten Medikamente. Diese seien an dieser Stelle insbesondere im Hinblick auf die studentische Leserschaft erwähnt: es gibt eine Vielzahl an frei verkäuflichen, pflanzlichen Arzneimitteln, die sich eignen, um vorübergehende, nervöse Episoden z.B. während der Prüfungszeit entspannter zu überstehen.
Lassen einem vor allem wenig hilfreiche Gedanken und Selbstvorwürfe keine Ruhe, können wir zu den rein kognitiven Techniken greifen. Hier hilft es zunächst einmal, das Gedankenkarussell bewusst zu stoppen: innerlich „Stopp!“ zu sagen und bewusst einen Gegenimpuls zu setzen (z.B. rückwärts von Zwanzig an abwärts zu zählen). Bei einem generell negativen, inneren Selbstgespräch hilft es oftmals, sich bewusst zu machen, wie lieblos man mit sich selbst umgeht … das würde man doch keinem Menschen antun wollen – oder? Ein Wechsel aus der Du-Perspektive des strengen Über-Ichs, hin zu Ich-Botschaften, wirkt oft Wunder. Geht es um Dinge wie den wahrgenommenen Selbstwert, kann es hilfreich sein, sich schriftlich eine Liste mit Argumenten zu erstellen oder zirkuläre Fragen zu nutzen, um eine neue Perspektive zu gewinnen. Sind negative Glaubenssätze ein Problem, kann Albert Ellis‘ ABC-Schema helfen, diese in Frage zu stellen und hilfreichere Aussagen zu finden. Überzeugungen kann man wechseln! Ziel ist, zu einer Das-Leben-geht-weiter-Einstellung zu gelangen, die die Angst als konstruktiven Dialogpartner sieht und nicht als etwas Lähmendes.
Auf der Verhaltensebene schließlich können wir ein wünschenswertes Verhalten durch Visualisierung, Simulation und Rollenspiele einüben. Vorbilder, deren Verhalten wir modellieren können, sind dabei ausgesprochen nützlich. Auch das bewusste Fokussieren auf das äußere Erleben und konkretes Handeln kann helfen – beispielsweise in Form einer schrittweisen Konfrontation und Desensibilisierung, bei der man bewusst in einer angstauslösenden Situation bleibt, bis die Angst nachlässt. Verstärken lässt sich der Effekt durch eine positive Rückkopplung, wenn also ein positiver Reiz mit der Situation verbunden wird.
Wir halten fest: Es ist hilfreich, konkrete Ängste zu akzeptieren und die Intention dahinter zu erforschen. Die Angst interessiert wahrzunehmen führt meist bereits zu einer Besserung. In jedem Fall eröffnet sich die Möglichkeit konstruktiv damit umzugehen. Und so, nach und nach, unsere Komfortzone zu erweitern und tatsächlich befreiter zu leben.
Das rechte Maß an Angst wirkt also konstruktiv, macht uns erfinderisch und lässt uns über unsere bisherigen Grenzen und Möglichkeiten hinauswachsen – wenn wir uns auf das Abenteuer einlassen. Entscheidend ist unsere subjektiv wahrgenommene Sicherheit bei der gedanklichen Risikoabwägung. Der vorgestellte Methodenmix enthält hoffentlich für jeden ein paar Dinge, die für ihn gut und hilfreich sind. Kein Werkzeug ist für jede Anwendung geeignet; pick dir das für dich passende heraus und lege den Rest beiseite – vielleicht hilft er dir später einmal.
Wer sich permanent weiterentwickeln und zu einem ganz eigenen Erfolgsmantra finden möchte, für den kann es hilfreich sein, auf diesem Weg Buch zu führen. Selbstbeobachtung und -reflexion bilden so nach und nach einen unersetzlichen Erfahrungsschatz. Sie helfen, die Aufmerksamkeit auf die wichtigen Dinge zu lenken und auf die eigenen Gedanken zu achten. Was hat mich geängstigt? Was habe ich unternommen und wie hat es geholfen? Wann war ich besonders mutig? Woran lag das und wie kann ich das in Zukunft für mich nutzen?
Der individuelle Methodenkoffer sollte von jedem eklektisch zusammengestellt werden. Dazu gehören auch Experimente, Rückschläge und Irrwege: Misserfolge können, wenn man etwas daraus lernt, zu Meilensteine auf dem Weg zum Erfolg werden. Die Vorstellung, der Weg zum Erfolg wäre geradlinig, ist ebenso falsch wie die eingangs erwähnte Jeder-kann-alles-erreichen-Mentalität. Natürlich lohnt es sich, dabei darauf zu achten, einen gewissen Puffer, einen Plan B, bereits in der Tasche zu haben; so experimentiert es sich gleich viel entspannter und angstfreier.
Viele werden erst dann mutig, wenn sie glauben, nichts mehr verlieren zu können. Daher an dieser Stelle noch ein paar Fragen für deine nächste, angstbesetzte Situation: was hast du wirklich zu verlieren? Fächere gedanklich die möglichen Ergebnisse und ihre empfundenen Wahrscheinlichkeiten auf. Wie groß ist das Risiko für dich tatsächlich? Und für den Fall, dass du vor einem unüberwindlichen Hindernis stehst, dass dich aus der Komfortzone in die Panikzone zu drängen sucht: was ist der nächste, konkrete, überschaubare Schritt, den du gehen kannst, sodass du deine Komfortzone nach und nach in diese Richtung erweiterst?
Wir nähern uns dem Ende, was bleibt zu sagen? Nein, du kannst auch mit den hier genannten Anregungen nicht alles erreichen. Aber du kannst Verantwortung übernehmen und etwas Großartiges für dich selbst schaffen. Du alleine bist der Experte für dich selbst und was dir gut tut!
Und du kannst andere unterstützen, indem du sie respektvoll ermutigst, ihre Komfortzonen in die für sie passenden Richtungen auszudehnen, denn Mut tut uns allen gut.
Mut ist eine tägliche Entscheidung und mit jeder Anwendung wird unsere Komfortzone und unsere wahre Freiheit ein bisschen größer, unser Leben reicher und glücklicher. Wäre doch schade, es gar nicht erst zu versuchen – oder?
*ZIRKULÄRE FRAGEN
stammen aus der systemischen Therapie. Dabei fragt man gewissermaßen „ums Eck“, um neue Perspektiven zu gewinnen. Beispiele: „Was glaubst du, was deine Mutter denkt, wenn sie dich so sieht?“ oder „Was glaubst du, was das bei deinem Vater auslöst, wenn deine Mutter so reagiert?“
*ABC-SCHEMA
Zwischen einem Auslöser (Action) und unserer Reaktion (Consequence) liegt unsere Bewertung anhand unserer Glaubssätze (Beliefs). Inwieweit unsere Reaktionen angemessen und unsere Glaubenssätze rational sind, können wir infrage stellen (Disputation). Eine irrationale, nicht zielführende Überzeugung können wir durch eine hilfreichere ersetzen und uns so kognitiv umstrukturieren (Effect).
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