Die Höhe vor dem Fall – Erfahrungen eines Basejumpers
Was hat Mut mit extremen Situationen zu tun? Kann man noch von Mut sprechen, wenn Ausnahmesituationen zum Alltag gehören – zum Beispiel bei einem Hobby?
von Nicole Bengeser
Laut einer Statistik auf freizeitmonitor.de gehörten 2016 Fernsehen, Radio hören und im Internet surfen zu den Hauptfreizeitbeschäftigungen der Deutschen. Das erweckt den Anschein, als suchen die meisten in ihrer Freizeit nicht den großen Thrill. Es gibt aber Hobbys, die zu einem Teil der Persönlichkeit werden und Umfeld und Freundeskreis prägen. Besonders intensiv geschieht das bei der Ausübung von Extremsportarten. Was jede davon auszeichnet, ist eine gewisse Risikobereitschaft desjenigen, der sie ausübt. Sind Extremsportler besonders mutige Menschen oder lieben sie nur den Kick, der durch den Ausstoß von Adrenalin ausgelöst wird? Wenn man an Mut denkt, ist der Begriff Angst nicht weit. Mut setzt voraus, dass es etwas gibt, das überwunden werden kann. Überwinden kann man im Grunde alles. Höhe zum Beispiel. Im extremsten Fall überwindet man Höhe durch den Fall. Ist das mutig?
Bei meiner Recherche für diesen Artikel finde ich den Kontakt zu Hannes. Er hat viele tausende Höhenmeter überwunden. Hannes war aktiver Base-Jumper und das mehr als zwanzig Jahre lang. In Deutschland baute er Ende der 90er die Base-Jumping- Plattform Verein Deutscher Objektspringer e. V. mit auf. Sein Hobby führte ihn durch die ganze Welt. Base-Jumping findet unter extremen Bedingungen statt. Ist das eine Voraussetzung für Mut? Ist man mutig, wenn der Einsatz hoch ist? „Beim Base-Jumping sollte das Rationale die Entscheidungen lenken, also auch die Vernunft“, schreibt mir Hannes in einer E-Mail auf einige meiner Fragen zurück. Ich denke, was daran ist vernünftig, in seiner Freizeit von Brücken und Gebäuden zu springen? Wir verabreden uns zu einem Skype-Gespräch.
Hannes kam über das Fallschirmspringen zum Base-Jumping. Da war der Sport in Deutschland noch so gut wie unbekannt. Base-Jumping war für ihn nur eine logische Fortsetzung des Fallschirmspringens. Alles an der Ausübung seines Sports sei zunächst nüchterne Planung, man muss kalkulieren können, erklärt er. Man geht nicht irgendwo rauf und springt dann munter wieder runter. Vorher muss man sich genau mit seiner Ausrüstung und Umgebung auseinandersetzen. Vor allem sollte man einige Jahre Erfahrung im Fallschirmspringen haben. Denn beim Base-Jumping muss jeder Griff sitzen und jede Entscheidung stimmen. Die Theorie ist wie in jeder Sportart für einen reibungslosen Ablauf wichtig. Der Unterschied zwischen Fallschirmspringen und Base-Jumping besteht im Zeitpunkt der Schirmöffnung. Beim Fallschirmsprung fällt man von 4000 m auf 800m und dann öffnet man seinen Schirm. Sollte sich dieser dann nicht öffnen lassen, ist noch genügend Zeit, den zweiten Fallschirm auszulösen. Beim Base-Jumping gibt es keinen Reserveschirm, dafür ist keine Zeit. Das wissen Base-Jumper und setzen sich damit in ihrer Vorbereitung auseinander. „Du kümmerst Dich mehr um diesen einen Schirm.“ Ein weiterer Unterschied ist, dass es beim Fallschirmspringen eine Öffnungsautomatik gibt. Beim Base-Jumping ist man für sich selbst verantwortlich. Es war früher mit großem Aufwand verbunden, geeignete Sprungorte zu finden. Man war auf Tipps anderer Springer angewiesen. Unter den Base-Jumpern gelte der Begriff „stealing altitude“ – ein Sprung soll so wenig Aufmerksamkeit erregen wie möglich, denn es gibt hohe Strafen. Im Yosemite National Park kann es bis zu 5000 Euro kosten, wenn man beim Base-Jumping erwischt wird.
Hannes gehörte der ersten Generation von Base-Jumpern an. Bei ihnen wurde der Sport noch sehr intensiv betrieben. Die Pfade zu den Objekten waren nochnicht ausgetreten. Die zweite Generation profitiert davon – viele der Spots sind mittlerweile ausgeschildert. Aber die Einstellung der Springer sei heute eine andere. Die Szene habe sich verändert. Junge Leute wollten schnell alles können. Es gehe nur noch darum, wer das coolste Video macht. Das Erlebnis mit sich selbst sei nicht mehr wichtig. Das war in den Anfängen noch anders, meint Hannes. „Das Erste was die heute machen, ist die Kamera zu checken, anstatt ihre Kollegen am Boden abzuklatschen.“ Hannes‘ erster Sprung war vom Berliner Fernsehturm. Ein prägendes Erlebnis. Am intensivsten war für ihn die Sekunde der Entscheidung zum Sprung.
Beim Base-Jumping sollte das Rationale entscheiden.
„In diesem Moment habe ich nicht über das Leben nachgedacht. Für das Leben ist in dem Moment kein Platz. Es ist eine lustvolle Erfahrung.“
Hannes sagt auch, es war für ihn wie eine Katharsis. Von da an verbringt er beinahe jedes Wochenende mit Base-Jumping. Als Absprungorte noch nicht erschlossen waren, kostete es Überwindung, den ersten Sprung von einem Objekt zu machen. Eine Mindestabsprunghöhe ist lebenswichtig. Mutig findet sich Hannes nicht. Mit Mut verbindet er Zivilcourage. Hannes gibt aber zu, dass eine von Natur aus ängstliche Person vermutlich kein Base-Jumping machen würde. Hier zähle Überwindung anstatt Mut. Man werde mit der Technik des Springens vertraut und dann hat man Spaß daran, wenn einem mit 200 km/h der Boden entgegenrast. Aber: Hannes hatte immer Respekt vor seinem Hobby.
„Man muss Vertrauen haben und sich sagen, eigentlich kann nichts passieren, weil ich alles richtig gemacht habe.“ Der Gedanke daran, wie ein Sprung ausgehen kann, sei für den Sport nicht gut. Man dürfe dem nicht so viel Platz geben. Dass es schiefgehen kann, hat Hannes miterlebt. Einige gute Freunde hat er an den Sport verloren. Aber weitergemacht. Das Risiko ist Teil des Sports, das sei jedem Springer bewusst. Organisatorisch ist die Plattform base-jump.de ein ganz normaler Verein, gegründet um Wissen zu sammeln und den Sport sicherer zu machen. „Wir sind keine lebensmüden Idioten.“ Hannes ist heute 53 und habe „einen Haufen Zeug erlebt“, wie er sagt. Wenn ihm andere erzählen, dass sie anfangen wollen, rät er ihnen ab. „Es ist die geilste Sportart, aber viel zu gefährlich.“
Vor drei Jahren hat er mit dem Base-Jumping aufgehört. Der Reiz war nicht mehr da. Jetzt fährt er Enduro-Mountainbike und Ski. Hannes beschreibt sein Gefühl zum Leben als intensiv und wach. Vielleicht hat ihn der Sport auch deswegen so sehr gefesselt. Beruflich ist er Verwaltungsangestellter. Das Base-Jumpen war auch ein Ausgleich. Das Fallen als Kontrast zum Büroalltag.
Er weiß, was es bedeutet, Angst zu haben. Oder Unverständnis. Das empfinde er selbst auch. „Ich habe viel Bescheuertes gemacht, aber Roofer* verstehe ich gar nicht.“ Sein ehemaliges Hobby habe ihn gelehrt, Situationen besser und schneller einzuschätzen. Was Mut bedeutet, könne er nicht erklären, dafür sei der Begriff zu komplex. Mit Extremsport habe Mut für ihn zumindest nichts zu tun. Was ihn Base-Jumping gelehrt hat, ist mit Tatsachen zu leben. Realistisch zu bleiben ist vielleicht die bescheidenste Form von Mut.
*BASE-JUMPING
deutsch: Objektspringen, ist eine Variante des Fallschirmspringens. Es wird von festen Objekten ausgeführt.
Der Begriff steht für
B: building / Gebäude
A: antenna / Antennen
S: span / Brücken
E: earth / Klippen, Felsen
Ein bekannter Base-Jumper aus Europa ist unter anderem der Österreicher Felix Baumgartner.
*ROOFING
engl.: Dacheindeckung, Überdachung, auch „Rooftopping“ („auf der Dachspitze sein“) wird ein Extremsport genannt, bei dem meist Jugendliche und junge Erwachsene ohne Sicherung auf hohe Bauwerke oder Gebäude klettern, um sich dort zu fotografieren oder zu filmen. Personen, die dieser Sportart nachgehen, werden als Roofer oder Roofr bezeichnet.
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