Auf dem philosophischen Prüfstand
Den Fragen, was Moral eigentlich sei und wie Handlungen hinsichtlich ihrer moralischen Richtigkeit möglichst objektiv zu bewerten sind, gingen bereits unzählige Philosophen nach. Einigkeit herrscht auch heute nicht.
von Leon Qadirie
Es ist nicht immer leicht, das Richtige zu tun. Dabei bestimmen unsere ureigenen Vorstellungen der Kategorien Gut und Böse, Richtig und Falsch unser alltägliches Handeln – oftmals vollkommen unbewusst. Die wesentliche Problematik ergibt sich aus der Diskrepanz zwischen subjektiven Normen und dem Mangel an offensichtlichen, objektiven Normen.
Während sich fast alle Gesellschaften in wesentlichen Punkten einig sind – wie beispielsweise der Tötung Unschuldiger – werden andere Fragestellungen von Kulturkreis zu Kulturkreis, Gruppe zu Gruppe und Person zu Person unterschiedlich gehandhabt. Ist es moralisch vertretbar, in einer Klausur beim Banknachbarn abzuschauen? Darf ich schwarzfahren, wenn ich meinen Geldbeutel vergessen, jedoch einen dringlichen Termin habe? Oder – schwerwiegender – ist es richtig, ein entführtes Flugzeug mit 100 Insassen abzuschießen, um so einen potentiellen Anschlag mit über 300 Toten zu verhindern?
Die Moralphilosophie versucht, klare Antworten zu liefern: Kriterien, anhand derer in jeder Situation, in der es zu einem Aufeinandertreffen entgegengesetzter, legitimer Interessen kommt, die moralisch korrekte Handlungsweise festgelegt werden kann. Eine Veranschaulichung der Kollision legitimer Interessen bietet das sogenannte Heinz-Dilemma:
Eine Frau, die an einer besonderen Krebsart erkrankt war, lag im Sterben. Es gab eine Medizin, von der die Ärzte glaubten, sie könne die Frau retten. Es handelte sich um eine besondere Form von Radium, die ein Apotheker in der gleichen Stadt erst kürzlich entdeckt hatte. Die Herstellung war teuer, doch der Apotheker verlangte zehnmal mehr dafür, als ihn die Produktion gekostet hatte. Er hatte 2000 Dollar für das Radium bezahlt und verlangte 20.000 Dollar für eine kleine Dosis des Medikaments. Heinz, der Ehemann der kranken Frau, suchte alle seine Bekannten auf, um sich das Geld auszuleihen, und er bemühte sich auch um eine Unterstützung durch die Behörden. Doch er bekam nur 10.000 Dollar zusammen, also die Hälfte des verlangten Preises. Er erzählte dem Apotheker, dass seine Frau im Sterben lag, und bat ihn, ihm die Medizin billiger zu verkaufen bzw. ihn den Rest später bezahlen zu lassen. Doch der Apotheker sagte: „Nein, ich habe das Mittel entdeckt, und ich will damit viel Geld verdienen.“ Es existieren verschiedene Herangehensweisen an die Problematik, geeignete Kriterien zur moralischen Abwägung einer Handlung aufzustellen. Zu unterscheiden sind insbesondere die teleologische sowie die deontologische Schule.
Der teleologische Ansatz, Schaden und Nutzen des jeweiligen Handelns zu ermitteln und schlussendlich gegeneinander aufzurechnen, nennt sich Utilitarismus. Richtig ist gemäß diesem stets diejenige Alternative, welche das absolute Glück maximiert – der Zweck heiligt die Mittel. Heinz, der verzweifelte Ehemann im obigen Beispiel, dürfte also nicht nur, sondern müsste das Medikament stehlen. Kritiker werfen den Verfechtern des Utilitarismus vor, die Diskriminierung von Minderheiten gemäß der Maxime des totalen Nutzens sei selbst „unmoralisch“. Auch sei die Kategorisierung von Nutzen und Glück stets selbst subjektiv und kaum messbar.
Das wohl bekannteste Normprüfkriterium des alternativen Ansatzes, der deontologischen Betrachtungsweise, ist Immanuel Kants kategorischer Imperativ: „Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne“. Dieser betrachtet explizit nicht die Folgen einer Handlung, sondern die ihr zugrunde liegende Maxime, den essentiellen Grundsatz und damit die Absicht der Handlung. So darf gemäß dem kategorischen Imperativ prinzipiell nicht gelogen werden – auch nicht, um das Leben Unschuldiger zu schützen. Denn vorsätzlich wahrheitsgemäße Deklarationen stellen nach Kant die Urquelle einer jeden Absprache dar. Eine prinzipielle Verletzung dieser entzieht somit jedem Vertrag die wesentliche Grundlage. Dies macht diesen und damit die Deklaration an sich obsolet und kann somit nicht als allgemeingültiges Gesetz angesehen werden. Heinz dürfte das Medikament also nicht stehlen.
Die Frage, die sich nun stellt, ist, ob durch eine nahezu rein aussagenlogische Herangehensweise an moralische Fragestellungen ein allumfassendes Normprüfkriterium aufgestellt werden kann. Der deutsche Philosoph Hegel beantwortet dies mit einem klaren „Nein“, da der kategorische Imperativ rein formal bestimmt sei und in der Praxis nur Tautologien liefere. So könne zwar beispielsweise die Frage des Stehlens für ein einzelnes Subjekt geklärt werden, nicht jedoch, ob Privateigentum an sich als allgemeingültiges Gesetz gelten müsse. Den Versuch, einen Imperativ zu begründen, welcher ebenfalls explizit die möglichen Konsequenzen einer Handlung betrachtet, unternahm der Philosoph Hans Jonas 1979 in seinem Werk „Das Prinzip Verantwortung“. In diesem kritisiert er, bisherige Überlegungen konzentrierten sich auf einen zu beschränkten Wirkungsraum, dabei seien die Auswirkungen unserer Handlungen durch die moderne Technologie potentiell viel schwerwiegender. So kann der Missbrauch einer gutgemeinten Entdeckung im Bereich der Virologie im schlimmsten Fall den Großteil der Menschheit ausrotten. Gleichzeitig sind ebensolche Folgen unseres Handelns a priori kaum abzuschätzen. Hans Jonas schlägt daher vor, sich der sogenannten „Heuristik der Furcht“ zu bedienen, welche im Zweifelsfall stets die negativen potentiellen Auswirkungen stärker gewichtet. Konkret lautet dieser sogenannte ökologische Imperativ: „Handle so, dass die Wirkungen deiner Handlungen verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden.“ Diese Verantwortungsethik führt uns vor Augen, dass die Dimension moralischer Fragestellungen inzwischen ein existenzielles Niveau angenommen hat.
Ist richtig, was nützt? Ist richtig, was Pflicht ist? Oder müssen wir stets aus Furcht vor dem schlimmsten möglichen Ausgang und aus Verantwortungsbewusstsein heraus handeln?
Normprüfkriterien dienen der Orientierung. Doch da kein Kriterium den anderen kategorisch vorzuziehen ist, entfällt die Wahl und Form der Auslegung auf den Einzelnen. Der Begriff des „Moralischen“ wird daher stets subjektiv bleiben.
* TELEOLOGIE
Altgriechisch für „die Lehre des Zweckes“, bezeichnet einen zweckorientierten Ansatz. Im Kontext der normativen Ethikphilosophie wird insbesondere die Konsequenz einer Handlung bewertet.
* DEONTOLOGIE
Altgriechisch für „die Lehre der Pflicht“, bezeichnet in der normativen Ethikphilosophie einen Ansatz, welcher nicht die Folgen einer Handlung bewertet, sondern die ihr intrinsisch zugrunde liegende Motivation
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