Ich überführe anonyme Täter anhand ihrer Sprachmuster – Interview mit Patrick Rottler

Wenn Worte zu Waffen und Texte zu Tatorten werden, beginnt sein Einsatz. Patrick Rottler ist Sprachprofiler am Privat Institut für Forensische Textanalyse in München. Ob anonyme Erpresserschreiben, gefälschte Testamente oder Drohbriefe – indem er Muster in Texten findet, überführt er anonyme Täter.

das Interview führte Nadine Lahn

Wie sind Sie dazu gekommen, Textprofiler zu werden?

Schon parallel zu meinem Studium der Kommunikationswissenschaften an der Ludwig-Maximilians-Universität in München habe ich mich intensiv mit der forensischen Linguistik beschäftigt. Ich konnte zusammen mit einem der erfahrensten Spezialisten im deutschsprachigen Raum an echten Fällen arbeiten. Heute gehört es zu meinem Alltag, anonyme Täter anhand ihrer Sprachmuster zu überführen.

Erhalten Sie selbst auch häufig anonyme Schreiben?

Das kommt tatsächlich gelegentlich vor. Dann meistens online. Mit jedem anonymen Täter, den wir überführen, machen wir uns natürlich auch einen weiteren Feind. Da kann man nicht nur mit 5-Sterne-Bewertungen und positivem Feedback in den sozialen Medien rechnen. Das stört uns aber nicht. Viel Feind, viel Ehr. Das gehört dazu. Wir reagieren auf solche Sachen in der Regel nicht. Unsere Auftraggeber sind nicht dumm und machen sich ihr eigenes Bild.

Wie lang gibt es das Institut für forensische Textanalyse schon?

Die Aufbauarbeit wurde im Jahr 2018 begonnen. Das Institut ist eine private Einrichtung in Form einer GmbH. Der Schritt in die Öffentlichkeit kam dann etwas später, nachdem alle Vorbereitungen und Formalien abgeschlossen waren. Bis zu diesem Zeitpunkt gab es in der forensischen Linguistik fast ausschließlich selbstständige Einzelkämpfer.

Wie viele Mitarbeiter gibt es? Aus welchen Fachdisziplinen kommen sie?

Wir sind ein kleines, aber feines Kernteam mit einem großen Netzwerk, welches verschiedene Experten zusammenbringt und deren Kompetenzen bündelt. Ich komme ursprünglich aus der Kommunikationswissenschaft mit Schwerpunkt Datenanalyse; die operative Fallführung macht Leo Martin, ein studierter Kriminalist und ehemaliger Mitarbeiter des Verfassungsschutzes. Je nach Konstellation  ziehen wir aus unserem Netzwerk die Spezialisten zusammen, die für den Auftraggeber mutmaßlich das beste Ergebnis erzielen. Dazu gehören neben Linguisten auch Experten für Arbeitsrecht oder Unternehmensführung.

Wer sind Ihre Auftraggeber?

Wir arbeiten zu 80 Prozent für Unternehmen. Oft geht es darum, dass Führungskräfte anonym angegriffen werden oder Mitbewerber oder enttäuschte Kooperationspartner Verleumdungskampagnen im Netz fahren. Die restlichen 20 Prozent teilen sich auf Privatpersonen und Sicherheitsbehörden auf.

Wer kann Textprofiler werden?

Voraussetzung ist ein abgeschlossenes Studium, beispielsweise der Linguistik, Germanistik oder Kommunikationswissenschaft. Noch wichtiger ist dann der fachliche Zugang zur forensischen Linguistik. Den bekommt man am besten, wenn man an eine Hochschule geht, die sich auch mit diesem Fachgebiet beschäftigt. Das ist aktuell leichter gesagt als getan. In Graz entsteht gerade ein spannender Fachbereich. In Deutschland steckt das Thema was die universitäre Lehre und Forschung angeht noch in den Kinderschuhen.

Gab es einen Fall, der Sie besonders berührt oder beschäftigt hat?

Vom Azubi bis zum Aufsichtsrat, vom Promi bis zum Professor hatten wir schon alle möglichen Verdächtigen unserem Schreibtisch. Manche Verfasser anonymer Drohschreiben entpuppen sich durch unsere Analysen als zahnlose Tiger, die nur brüllen, solange sie feige aus dem Dunklen schießen. Andere offenbaren Informationen, die brisanter sind und unseren Auftraggebern tatsächlich gefährlich werden können. Die Bandbreite reicht von der bösen Verleumdung, den perfiden Stalker über das gefälschte Testament bis hin zum politischen Saboteur.
Jeder unserer Fälle hat etwas Spannendes, weil es immer um echte Schicksale geht. Ein Fall, der mich persönlich besonders beschäftigt hat, war ein Stalking-Fall, bei dem einer jungen Frau sehr übel mitgespielt wurde. Sie hat nach und nach ihren kompletten Bekanntenkreis verdächtigt und dadurch Stück für Stück alle Freundschaften kaputt gemacht. Genau darauf hatte der Täter es angelegt.
Einen anderen, besonders spannenden Fall hatten wir 2019 in Mainz. Dort stand damals die Oberbürgermeisterwahl an. Im Vorfeld tauchten einige anonyme Briefe auf. Darin wurde unter anderem der Oberbürgermeister, der erneut kandidierte, der Korruption beschuldigt. Auch in diesen Fall konnten wir Klarheit bringen. Wir konnten nachweisen, dass unterschiedliche Briefe, die angeblich von unterschiedlichen
Absendern stammten, tatsächlich von ein und demselben Täter verfasst wurden. Damit war aus den meisten Vorwürfen die Luft raus.

Kommt es häufiger vor, dass Sie eine ganze Reihe an Schreiben als Material erhalten?

Anonyme Briefe tauchen oft in Serien auf. Besonders dann, wenn der Täter den Eindruck hat, dass er sein Ziel noch nicht erreicht hat. Oder wenn er mehrere Personen in ein und derselben Sache anschreibt, z. B. um dadurch einen möglichst großen Schaden anzurichten. Mit jedem Wort steigt allerdings auch sein Risiko, am Ende überführt zu werden. Denn für uns gilt: Je mehr Text wir haben, desto besser. Unser Job ist es, Sprachmuster zu analysieren. Und je größer die Datenmenge, desto leichter gelingt uns das.

Beschreiben Sie mir bitte, wie Sie bei der Analyse eines Falls vorgehen. Wie schließen Sie auf die Identität der Täter? Welche Rolle spielen Muster in der Analyse?

Unsere wichtigste und schlagkräftigste Methode ist die vergleichende Sprachanalyse. Diese kommt zum Einsatz, wenn wir einen anonymen Text und einen oder mehrere Verdächtige haben. Dann zerlegen wir den anonymen Text in seine einzelnen, sprachlichen Bausteine. Das geht von der einfachen Wortwahl über die Grammatik bis tief hinein in die Sprachpsychologie. Dabei sind wir auf der Suche nach Mustern, die signifikant sind und systematisch vorkommen. Wir schauen uns an, wie der Täter mit Sprache umgeht. Welche Muster können wir sichtbar machen, die typisch für den Täter sind? Am aussagekräftigsten sind Fehler, die systematisch vorkommen, aber auch jede andere sprachliche Spur kann einen Wert haben. Bevorzugt der Täter „daher“, „deshalb“ oder „deswegen“? Oder entscheidet sich regelmäßig für „darum“? Man braucht ein Auge fürs Detail. Für Muster, die dem normalen Leser verborgen bleiben. Deshalb kann die Analyse eines einfachen Falls auch schnell mal 30 bis 40 Stunden dauern. Weil wir jeden Text unzählige Male lesen. Jedes Mal aus einer anderen Perspektive.

Aus Krimis kennt man aus Zeitungsschnipseln zusammengesetzte Briefe von Tätern – kommt es auch vor, dass Sie solche Texte auf dem Schreibtisch haben?

Diese Zeitungsschnipsel-Briefe sind eine Erfindung des Fernsehens. So wird dem Zuschauer auf den ersten Blick klargemacht: Hierbei handelt es sich um einen anonymen Brief. In der Praxis kommen solche Bastelarbeiten so gut wie gar nicht vor. Und wenn, dann ist es in der Regel entweder ein böser Spaß oder ein Täter, der seine Bildung aus dem Fernsehen hat.

Werden auf analogen Schreiben auch Fingerabdrücke etc. gesucht?

Die Suche nach Fingerabdrücken oder Faserspuren ist Sache der Kriminaltechnik. Es macht auf jeden Fall Sinn, jedes anonyme Schreiben auch als Spurenträger zu behandeln. Also nur mit Handschuhen anfassen, mit so wenig Kontakt wie möglich und an einem schmutz- und lichtgeschützten Ort aufbewahren. Für unsere Sprachanalyse reichen qualitativ hochwertige Kopien oder Fotos.

Inwiefern grenzt sich Ihre Arbeit von der des Bundeskriminalamts (BKA) oder der Polizei ab? Inwiefern arbeiten Sie zusammen?

Fälle, bei denen es sich um schwere Straftaten handelt, bei denen es um Leib und Leben geht – beispielsweise Morddrohungen oder Lebensmittelerpressungen – sind in erster Linie Sache der Polizei. Wir verweisen solche Anfragen auch direkt dorthin. Das BKA beschäftigt ausgezeichnete Experten für forensische Linguistik. Wir unterstützen in erster Linie Unternehmen, die stille Ermittlungen, ohne Polizei und Staatsanwaltschaft wünschen. Aber es kommt auch schon mal vor, dass wir Anfragen von der Polizei bekommen, z. B. wenn das BKA den entsprechenden Fall aus irgendwelchen Gründen gerade nicht bearbeiten kann.

Wir haben bisher nur über die vergleichende Textanalyse gesprochen. Verwenden Sie auch noch andere
Methoden?

Neben dem Sprachvergleich ist unsere zweitgrößte Säule das Profiling, also das Erstellen von Autorenprofilen – wir geben der Person hinter dem Text ein Gesicht. Wobei man vielmehr von einer Silhouette sprechen muss. Dabei geht es um soziodemografische Kategorien: Alter, Bildungsgrad, regionale Herkunft etc. – alles, was sich in der Sprache niederschlagen kann. Das Profiling setzen wir ein, wenn wir zunächst nur einen anonymen Angriff, aber noch keinen Verdächtigen haben. Durch das Autorenprofil kann der Kreis der möglichen Verdächtigen oft eingegrenzt werden. Das hilft auf der Suche nach dem anonymen Täter.

Die Sprache kann also als Beweismittel dienen?

Im Optimalfall wird der Befund unserer linguistischen Sprachanalyse zusätzlich durch andere unabhängige Beweismittel gestützt. In den letzten 20 Jahren gab es regelmäßig rechtskräftige Urteile, bei denen die Sprachanalyse das einzige Beweismittel war – unter anderem bei Urteilen von Arbeits-, Amts- und Landgerichten, sowie bei Oberlandesgerichten. Eindeutige Ergebnisse, wie bei der Analyse von Fingerabdrücken oder DNA sind im Bereich der Sprachanalyse nicht möglich. Unter günstigen Umständen ermöglicht auch die Sprachanalyse eine „sehr hohe“ Genauigkeit bei der Zuordnung. Eine Aussage zur Wahrscheinlichkeit ist Teil jedes Gutachtens.