Die Entwicklung des Fahrrads – 200 Evolution statt Revolution
Anlässlich des 200. Geburtstags des Fahrrads in Karlsruhe möchten wir uns auf eine kleine Zeitreise begeben und die Geschichte des Fahrrads nochmals aufleben lassen.
von Josephine Hanebeck
Der Wind pfeift, Hagel schlägt gegen die Scheiben, die Kerze flackert und mein Magen knurrt. Ein Wimmern ertönt, aber ich kann es nicht identifizieren. Ich höre es erneut. Ein leises Keuchen aus der Scheune? Ich springe auf, so schnell ich kann, mache ich mich auf den Weg. Spurte die Treppen runter und stolpere ins Freie. Es brennt Licht in der Scheune – ungewöhnlich für diese Zeit. Schnellen Schrittes nähere ich mich dem Eingang. Es ist meine Frau, sie kniet mit sorgenvollem Gesicht im Stroh. Ein Pferd liegt vor ihr im Sterben. „Nicht schon wieder!“, stößt es aus mir hervor. Es war eines unserer besten Pferde, wenn es so weitergeht, sieht es gar nicht gut für uns aus.
Wir schreiben das Jahr 1816 und befinden uns in Baden, genauer gesagt in Karlsruhe. Niedrige Temperaturen, Hagelschlag und Dauerregen führen zu Missernten, Hungersnöten und Futtermittelknappheit. Massenhaftes Pferdesterben ist die Folge. Der Transport liegt erst einmal flach. Kutschen sind nicht mehr zu gebrauchen. Ich, Karl Drais, Forstbeamter in Karlsruhe, sitze am Schreibtisch und tüftele über einem Plan. Vor wenigen Tagen hatte ich eine geniale Idee, hoffentlich lässt sie sich auch umsetzen! Eine Alternative zum Kutschverkehr muss her. Das Besondere: Antrieb mit eigener Muskelkraft. Keine Abhängigkeit mehr von den Pferden. Meine Erfindung wird zu einem Riesenumschwung führen! Da bin ich mir sicher. Eine Laufmaschine, mit einem Antrieb über die Beine. Man sitzt auf einem bequemen Sattel und stößt sich mit den Füßen vom Boden ab, so bewegt man sich vorwärts. Über eine bewegliche Lenkstange kann man dabei sogar Kurven fahren!
12. Juni 1817:
Heute ist mein großer Tag. Ich kann es nicht glauben, mein Herz rast und meine Hände sind schwitzig. Die erste Testfahrt mit meiner Laufmaschine vor Publikum steht an. Sogar die Vertreter der Presse sind anwesend! Es muss einfach alles gut gehen.
Unglaublich – ein atemberaubendes Gefühl, 14 Kilometer habe ich in nur einer Stunde zurückgelegt. Alles mit reiner Muskelkraft! Ich bin völlig erschöpft und ausgelaugt. Ich liege im Bett, meine Glieder zittern, doch Adrenalin fließt durch meinen Körper. Ich habe es wirklich geschafft! Meine erste Fahrt war ein voller Erfolg. Ich merke noch, wie ich mich zur Seite drehe, doch schon zieht es mich in das Land der Träume.
Ich befinde mich im Jahre 2017, 200 Jahre später.
Ich stehe in einem Raum. Ich schaue mich um und entdecke auch andere Menschen. Es dauert eine Weile, bis ich erkenne, dass ich mich in einem Museum befinde. Vor mir steht eine Laufmaschine. Genau eine solche, wie ich sie heute gefahren habe. Auf einem kleinen Schild steht, dass sie später „Draisine“ genannt worden ist. Außerdem auch, dass die Laufmaschine wieder in Vergessenheit geraten ist, als sich das europäische Klima wieder erholt hat. Ein Vulkanausbruch im heutigen Indonesien brachte diese extremen Folgen für das Klima in Europa mit sich. Ich spüre Enttäuschung in mir aufkommen und kann nicht glauben, dass die Menschen den Nutzen meiner Erfindung nicht erkannt haben. Doch dann erblicke ich ein weiteres kleines Schild. Erst auf den zweiten Blick erkenne ich, dass es sich um einen Steckbrief handelt. Nämlich über mich! Über mich, den Freiherrn Karl von Drais. Ich kann es kaum glauben, ich bin doch in die Geschichte eingegangen, mit meiner Idee! Ich schaue mich um, ob ich noch mehr entdecken kann in diesem Raum. Doch außer einer Tür ist nichts zu erkennen. Ich zögere nicht lange und gehe hindurch. Das Erste, was ich erblicke, ist ein großes Plakat, auf welchem 1861 steht. Auch hier steht ein Modell einer Laufmaschine, doch eine etwas andere. Wieder lese ich das danebenhängende Schild. Der sogenannte Pedalantrieb wurde entwickelt und eine Tretkurbel entstand. Außerdem verbesserte man die Sicherheit durch eine Federung und Bremsen. In diesem Jahr wurde das Fahrrad das erste Mal aus Gusseisen und nicht mehr aus Holz gebaut. Es dauert ein wenig, bis ich verstehe, was all diese Neuerungen an meiner Erfindung genau bedeuten. Dabei helfen mir die nebenstehenden Skizzen und Erklärungen. Im nächsten Raum befinde ich mich im Jahre 1870. Die hier ausgestellten „Laufmaschinen“ sehen ganz anders aus! Sie werden „Hochräder“ genannt. Die Neuerungen kann ich schnell erkennen. Das Vorderrad wurde stark vergrößert, um den Weg pro Umdrehung möglichst groß machen zu können und Kraft einzusparen. Allerdings steht hier auch, dass es mit dem Hochrad durch das Bremsen oder Bodenhindernisse häufig zu Unfällen kam. Durch den hohen und sehr weit nach vorne verschobenen Sitz führten diese Unfälle oft zu schweren Verletzungen, weshalb sich diese „Laufmaschine“ nicht durchgesetzt haben soll. Also muss es noch weitere Räume geben und so noch weitere Innovationen, die meine Idee mit sich gebracht hat! Ich spüre Freude in mir aufkommen! Es macht so viel Spaß zu sehen, wie sich die eigene Erfindung weiterentwickelt hat. Es ist so spannend! Schnell laufe ich weiter, den nächsten Raum ziert die Aufschrift des Jahres 1879. Hier wird die Laufmaschine als „modernes Fahrrad“ und „Sicherheitsniederrad“ bezeichnet, welches Abhilfe zur Sturzgefahr des Hochrades bringen soll. Die Kraft der Beine wird nun über Kette und Zahnkranz übertragen. Vorder- und Hinterrad sind wieder gleich groß und bieten so mehr Sicherheit. Außerdem entstand der so genannte „Diamantrahmen“ des Fahrrads, welcher aus zwei Dreiecken besteht. Aufgeregt renne ich in den nächsten Raum. Auf dem Plakat steht der Zeitraum 1888-1891. Auf den ersten Blick erkenne ich keine große Veränderung. Doch auf den zweiten Blick sehe ich, dass die Reifen anders aussehen. Diese bestehen jetzt aus einem Schlauch, welcher über die Radfelge gezogen ist. Da ich sonst keine weiteren Neuerungen entdecke, eile ich schon weiter in den nächsten Raum, ins Jahr 1887. Die nächste technische Entwicklung ist der Freilauf. Ich muss erst nachlesen, bis ich verstehe, was dies genau bedeutet. Das heißt, dass sich das Rad weiterbewegt, auch wenn der Fahrer für einen kurzen Moment nicht tritt. Interessant! An so etwas habe ich noch gar nicht gedacht. Doch jetzt, wo ich die Neuerung verstanden habe, macht es tatsächlich sehr viel Sinn, gerade, wenn maneinen Berg hinunterfahren möchte. Doch ich bin so aufgeregt, dass ich schnell in den nächsten Raum gehen möchte, um zu sehen, was noch aus meiner Laufmaschine geworden ist. Ich befinde mich nun im Jahre 1895. Wiederum erkenne ich im ersten Moment gar keine Veränderung. Bis ich auf einen kleinen Kasten im Rahmen aufmerksam werde. Gespannt lese ich die zugehörige Erklärung. Es handelt sich um eine Batterie und einen Elektromotor, welcher den Fahrer bei Bedarf unterstützten kann. Um zu verstehen, was das bedeuten soll, muss ich erst einen Mitarbeiter des Museums fragen. Er erklärt es mir ausgiebig und sehr geduldig. Ich kann kaum glauben, welche Möglichkeiten der Mensch im Jahre 1895 schon hat! Umso gespannter bin ich, als ich mich auf den Weg in den nächsten Raum mache. Doch plötzlich stehe ich draußen. Als ich mich umdrehe, erkenne ich, dass ich wohl vor dem Museum stehen muss. Schnell gehe ich zurück und spreche den Mitarbeiter erneut an. „Wir haben doch das Jahr 2017, oder?“, frage ich ihn. „Natürlich haben wir das“, antwortet er verwundert. Ich bedanke mich und gehe wieder. Aber wieso endet das Museum denn schon 1895? Hat sich seitdem nichts mehr an der Erfindung des Fahrrads getan? Ich kann nicht glauben, dass meine Entdeckungsreise hier schon enden soll. Und vor allem kann ich mir nicht vorstellen, dass sich in den letzten 122 Jahren nichts mehr geändert hat. „Entschuldigung, kann ich helfen? Siesehen etwas verwirrt aus.“ Ein anderer Museumsmitarbeiter reißt mich aus meinen Gedanken. „Ja, ich bin sehr verwirrt“, erwidere ich. „Wieso endet das Museum bereits 1895, wenn wir doch schon 2017 haben?“ „Ganz einfach, hier hat sich das moderne Fahrrad entwickelt. Die Basis wurde geschaffen und es kam zu keinen weiteren großen Erfindungen mehr.“ „Aber wieso?“, frage ich ungläubig, „Wie kann es sein, dass man nichts mehr verändert hat? Ist man nicht mehr interessiert an dem Fahrrad?“ „Doch, doch! Man ist sehr interessiert daran. Aber man forscht nun an kleinen Raffinessen. Man versucht zum Beispiel das Fahrrad immer leichter zu bauen, um weniger Kraft aufwenden zu müssen. Aerodynamik wird ein immer wichtigeres Thema. Außerdem wurde 1981 noch das Mountainbike entwickelt. Ein robustes Fahrrad, welches das Fahren über besonders holprigen Untergrund möglich macht. Allerdings ist es nun schon lange her, dass es eine wirklich bahnbrechende Innovation gab.“ Ich bin trotzdem verwundert und frage, wie es sein kann, dass man das Fahrrad nicht mehr unter einem ganz anderen Gesichtspunkt betrachtet hat. Seine Antwort darauf ist nur spekulativ. „Ich vermute, dass man einfach einen zu eingeschränkten Blick auf eine solche Erfindung hat, wenn sie vor einem steht. Man kann sich das Fahrrad gar nicht anders vorstellen und dementsprechend kommt man auch nicht auf andere Ideen. Sobald die Menschen allerdings ein Problem am bestehenden Fahrrad feststellen können, ist es verhältnismäßig einfach, die Ursache dessen festzustellen und zu beheben. Betrifft dieses Problem nun noch weitere Menschen, ist es möglich auch nur die kleinste Veränderung als bahnbrechende Innovation ausgeben zu können. Denn sobald man das Bedürfnis erkannt hat und befriedigen kann, ist die Nachfrage und die Begeisterung natürlich schnell sehr groß.“ Ich denke, dass er damit Recht hat und kann verstehen, was er meint. Trotzdem finde ich es schade, dass die Weiterentwicklung meiner Laufmaschine schon recht früh geendet hat. Ich frage mich, ob man nicht noch mehr aus meiner Erfindung hätte machen können, wenn es noch eine weitere wirklich ausschlaggebende Neuerung gegeben hätte. Als ich ihn darauf anspreche, ist er der gleichen Meinung wie ich. „Nur, weil die Entwicklung des Fahrrads nun für 122 Jahre stagniert hat, ist auf keinen Fall auszuschließen, dass es in Zukunft weitere große Erfindungen geben wird. Wenn wir Glück haben, und das hoffen wir wohl beide, gibt es eines Tages noch eine ganz neue innovative Entdeckung, die einen Umschwung im Verkehr mit sich bringt! Um das herauszufinden, kann man aber erst einmal nur abwarten…“ Plötzlich höre ich ein leises Klopfen. Hektisch drehe ich meinen Kopf, doch im Museum befindet sich inzwischen niemand mehr außer uns. Ich schaue ihn verwirrt an und frage, was das für ein Geräusch war. Er sieht mich fragend an, als ich plötzlich aufschrecke und in das Gesicht meiner Frau blicke. Ich schaue an mir herab und sehe, dass ich mich in meinem Bett im Jahre 1817 befinde. Ich bin traurig, dass der Traum schon vorbei ist und ich die spannende Unterhaltung nicht weiterführen kann. Bei einem bin ich mir aber ganz sicher: Dass das nicht irgendein unbedeutender Traum war. Doch was dieses Gefühl genau bedeutet kann ich nicht beantworten.
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