Geschmack der Freiheit – Auf der Suche nach sich selbst auf dem überfüllten Jakobsweg

Zahlreiche kommerzielle, literarische oder filmische Erzählungen über den sogenannten Jakobsweg verführen viele Reisende mit einem süßen Versprechen der Freiheit, der Selbstfindung, des Glücks. Als Folge begeben sich immer mehr Menschen, die auf der Suche nach allerlei Antworten sind, in Richtung Spanien und rufen somit eine echte Massenflucht hervor. Eine Flucht vor der moralischen und emotionalen Enge, die wir in unserer strukturierten Gesellschaft immer deutlicher empfinden. Ist also der berühmte Jakobsweg nur eine von vielen überfüllten Touristenattraktionen, auf dem Pilger ausschließlich eine bittere Enttäuschung erleben können? Um das herauszufinden, unterhielt ich mich mit Lukas, der über tausend Kilometer des Jakobswegs gelaufen ist und zahlreiche Erinnerungen nach Deutschland mitgebracht hat.

das Interview mit Dr. Lukas Rybok führte Sylwia Weronika Wąs

Was hat dich dazu bewegt, eine Pilgerreise zu unternehmen?
Ich habe beim Forschen und Schreiben meiner Dissertation sehr viel Zeit vor dem Computer verbracht und mir daher als Belohnung die Reise versprochen. Unter der ständigen Bildschirmarbeit hat meine Fitness zudem gelitten, sodass sich die Wanderung als eine sehr willkommene Gelegenheit ergab, wieder etwas für meinen Körper zu tun. Beim Schreiben der Dissertation kamen mir aber auch Fragen auf, was ich danach machen möchte und ich habe mir von der Reise erhofft, dass ich auf einem solchen langen (und wie ich mir damals erhofft habe einsamen) Pilgerweg „eine Erleuchtung“ bekomme und ich mir über all meine Fragen, die meinen weiteren Lebensweg betreffen, klar werde.

Ist die Magie des Pilgerns real? Kannst du rückblickend sagen, ob der Jakobsweg das erfüllt, wofür er berühmt ist?
Wie der Jakobsweg auf einen rückblickend wirkt, hängt letztendlich von den Erwartungen eines jeden Pilgers ab. Da ich ohne großartige Erwartungen losgelaufen bin, war es für den Jakobsweg ein Leichtes, mich in seinen magischen Bann zu ziehen. Schon allein die grenzenlose Freiheit (natürlich im Sinne der regula aurea) war ein einmaliges Erlebnis. Davon abgesehen habe ich während der Reise so viel Schönes erlebt, dass sie mir rückblickend vorkommt, als hätte sie Jahre gedauert. Ich habe während des Weges gelernt, nicht vor mir selbst wegzulaufen, sondern zu akzeptieren, was mich ausmacht.

«Ich habe während des Weges gelernt, nicht vor mir selbst wegzulaufen, sondern zu akzeptieren, was mich ausmacht.»

Was ist deine Ansicht: Leidet der Jakobsweg unter dem Massentourismus?
„Ich bin dann mal weg“ von Hape Kerkeling, „The Way“ von Emilio Estevez, „O Diário de um Mago“ von Paulo Coelho, oder die Bücher der koreanischen Journalistin Kim Hyo Sun sind nur einige Beispiele, die aufzeigen, dass der Jakobsweg seit einigen Jahren in den internationalen Mainstream-Medien seinen Platz gefunden hat. Entsprechend ist es kaum verwunderlich, dass jedes Jahr neue Pilgerrekorde auf dem Jakobsweg verzeichnet werden. Da ich meinen Weg bewusst sehr stark Off-Season gelegt habe, habe ich von den berühmt-berüchtigten Pilgerautobahnen und dem Rennen um die stark limitierten Herbergen glücklicherweise nichts mitbekommen. Romantische Einsamkeit sollte man allerdings auf dem Jakobsweg nicht erwarten, zumindest solange man den Weg nicht im tiefsten Winter läuft, der stellenweise ordentlich Schnee mitbringt. Vor allem früh morgens bilden sich regelrechte Pilgerschlangen, die sich aber innerhalb weniger
Stunden entzerren, sodass es mir trotz allem möglich war, die ersehnte Einsamkeit zu finden. Wie es bei solchen Menschenmassen zu erwarten ist, hat die Umwelt schon etwas durch den Massentourismus gelitten, aber dank der vielen umsichtigen Pilger viel weniger als erwartet. Soll heißen, einige Pilger werfen Müll auf den Weg, und andere entsorgen wiederum diesen Müll, sodass die Pilgertoiletten und der Lärm beinahe die einzigen Überbleibsel der Menschenmassen sind. An dieser Stelle möchte ich jedoch erinnern, dass es DEN Jakobsweg eigentlich gar nicht gibt. Wenn vom Jakobsweg gesprochen wird, dann ist meist der „Camino Frances“ gemeint – eben jener Weg, der die meiste mediale Aufmerksamkeit bekommt. Wählt man aber einen der zahlreichen Alternativen aus, wie den Camino Primitivo, Camino Portugues, oder den Via de la Plata, dann bekommt man dennoch die Gelegenheit, eine recht ursprüngliche Jakobswegerfahrung zu machen.

Was ist das Skurrilste, was dir unterwegs passiert ist?
Die skurrilen Ergebnisse sind wohl die, die mir am meisten in Erinnerung geblieben sind. Dazu gehört sicherlich die Übernachtung bei ein paar modernen Tempelrittern, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, Templerburg wiederaufzubauen, um dort ein Geschichtszentrum der Tempelritter, der Region und des Jakobsweges samt Pilgerberge zu errichten. Irgendwie kamen wir ins Gespräch, und ehe ich mich versah, wurden wir alle zum Abendessen und Übernachtung eingeladen und durften sogar einem Templerritual beiwohnen.

Was hat dir am besten gefallen?
Die absolute Freiheit, wie ich sie bisher noch nie erlebt habe. Man muss sich keine Gedanken über Verpflegung, Weg oder Schlafplatz machen, denn alles findet sich irgendwie. Und da man komplett ohne festen Plan läuft, kann man sich jeden Tag aufs Neue spontan entscheiden, ob man lieber allein laufen will oder doch mit jemandem, den man gerade getroffen hat, in welchem Ort man unterkommt, oder wann und wo man eine Pause einlegt. Und da der Weg so gut mit gelben Pfeilen ausgeschildert ist, muss man noch nicht mal seinen Kopf zum Navigieren benutzen. Stattdessen gilt: Kopf aus und den Moment genießen. Daneben fand ich die abwechslungsreiche und atemberaubend schöne Landschaft sehr imposant
Im Grunde genommen bringt jeder Tag ein neues Erlebnis, das einem noch lange in Erinnerung bleiben wird.

Auf welche Herausforderungen oder mögliche Gefahren sollten sich Reisende einstellen?
Die größten Herausforderungen auf der Reise waren wohl der eigene Körper und der Geist. Der Körper, weil dieser einige Wochen brauchte, um einer solche Dauerbelastung, wie sie auf einer mehrwöchigen Wanderung aufritt, stand zu halten. Unabhängig vom Alter oder der körperlichen Verfassung klagten, vor allem am Anfang der Reise, die meisten Mitpilger über die gleichen Probleme wie ich: Blasen an den Füßen und Schmerzen Muskeln und Sehnen, wie man sie noch nie erlebt hat. Dass man trotz all dieser körperlichen, sowie vieler anderen Probleme nicht aufgibt, ist wiederum eine nicht zu unterschätzende Herausforderung für den Geist.

„Einmal Pilger, immer Pilger“ – kannst du diese Aussage bestätigen?
Absolut, allerdings im wortwörtlichen Sinne, nicht im übertragenen. Soll heißen, dass ich auf dem Jakobsweg meine
Leidenschaft fürs Pilgern im Sinne von mehrwöchigen Wanderungen entdeckt habe. Aber auch jedes Mal, wenn ich auf einer Reise an einer Jakobsmuschel vorbeilauf, die den Weg markiert, kann ich nicht widerstehen, diesem Weg zumindest für einige Kilometer zu folgen. Auch wurde mein Blick für solche Wegweiser und für Pilger, die dem Weg folgen geschärft. Außerdem ist es immer wieder schön, sich mit ihnen zu unterhalten.

Würdest du die Reise noch einmal machen?
Auf jeden Fall. Ob es dieselbe Strecke zu Fuß oder per Rad, ein anderer Jakobsweg, oder sogar ein anderer Pilgerweg ist, kann ich jedoch nicht sagen. Fakt ist, dass ich beim Wandern zwischendurch immer wieder auf Teile anderer Jakobswege gestoßen bin, die ich noch gerne erforschen würde.

Herausgeber

fuks e.V. – Geschäftsbereich Karlsruher Transfer

Waldhornstraße 27, 76131 Karlsruhe
Telefon +49 (0) 721 38 42 313
transfer@fuks.org

Urheberrecht:

Alle Rechte vorbehalten. Die Beiträge sind urheberrechtlich geschützt. Vervielfältigungen jeglicher Art sind nur mit Genehmigung der Redaktion und der Autoren statthaft. Namentlich gekennzeichnete Artikel geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wider. Der Karlsruher Transfer erscheint einmal pro Semester und kann von Interessenten kostenlos bezogen werden.